Montag, 6. Dezember 2010

Aufklärung und deutsche Identität

Aufklärung und deutsche Identität



Als ich im Jahr 1979 als zwanzigjähriger Staatenloser zum ersten Mal den Boden des freien Westens betrat und das erste Mal in meinem Leben wirklich frei war, sah ich es als eine Bürgerpflicht des Entsprungenen an, über das zu berichten, was ich im Sozialismus erlebt hatte. Alexander Solschenizyn hatte sein folgenschweres Werk „Der Archipel Gulag“ den Opfern des Stalinismus zugedacht. Dieses im Westen vielfach gelesene und mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Werk, welches das Ende des Kommunismus in Westeuropa einleitete, ist: All jenen gewidmet, /die nicht genug Leben hatten, /um dies zu erzählen.//Sie mögen mir verzeihen, /dass ich nicht alles gesehen, /nicht an alles mich erinnert, /nicht alles erraten habe. Diese Worte Solschenizyns waren auch mein Paradigma, mein Leitsatz und mein moralischer Impetus. Gleich nach der Ankunft wollte ich etwas Vergleichbares anstreben und über die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen berichten, die ich in der Diktatur rumänischer Kommunisten und in rumänischen Gefängnissen erlebt hatte. Deshalb hämmerte ich schnell einen hundertfünfzig Seiten starken Bericht aus der Schreibmaschine, klopfte an einige wenige Verlagstüren, fand aber auf Anhieb keinen Verleger, der die Zeugnisse über die Welt jenseits des „Eisernen Vorhangs“ aus Überzeugung gedruckt hätte. Damit war ich in bester Gesellschaft; Joyce, Beckett, Orwell und tausend andere Schriftsteller hatten seinerzeit auch keinen Verlag finden können, weil das „Exquisite für das Ohr der Happy Few“ so schlecht in der Kasse klingelt.
Die Menschen im Westen wollten damals, zehn Jahre vor dem Fall der Mauer, schlicht „keine Gefängnisliteratur lesen“, klagten mitfühlende Lektoren, dafür aber - als neue Welle - die Memoiren der Stars und Sternchen aus der Film- und Musikbranche. Darauf hin resignierte ich etwas überempfindlich gekränkt und übergab das Manuskript den Flammen. Zu früh vielleicht, bestimmt zu früh!? Manche Namen, Daten, Details waren für immer dahin. Doch ich agierte weiter, an anderer Front als Zeitzeuge. Gleichzeitig stand ich vor der Herausforderung, das konkrete Überleben zu meistern. Auch musste die geistige Ausbildung, die noch nicht richtig begonnen worden war, weitergeführt und vertieft werden. Auch ein Dissident lebt nicht nur vom frühen Widerstand allein. Abitur und Studium standen bevor - und zahlreiche Themen, die mich brennend interessierten und von deren Erarbeitung ich in Rumänien abgeschnitten war.
 
Carl Gibson 1981 an der Mauer in West-Berlin - Menschenrechte  im Kalten Krieg


Während ich in Rottweil das Abitur machte, um dann in den alten Universitätsstädten Erlangen, Tübingen, Wien, Freiburg und Würzburg zunächst Politik, Geschichte und Philosophie zu studieren, beschäftigten mich zwei große historische wie politische Themen, die fast die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt und nachhaltig bestimmt hatten bis hinein in meine Biografie : Fortan widmete ich mich über Jahre dem totalitären Themenkomplex: „Hitler und der Nationalsozialismus“ und „Stalin und der Kommunismus sowjetischer Prägung in Osteuropa“, rein wissenschaftlich, doch nicht ohne die eigene Lebenserfahrungen und „die Perspektive des ehemaligen Widerständlers“ aus den Augen zu verlieren. Ein Fokus des Ganzen bestand in einem Bereich, der, objektiv gesehen aus makrohistorischer Gesamtperspektive nur ein unerhebliches Randthema war, das mich aber existenziell tangierte und emotional berührte: die Identitätsfindung der Deutschen aus dem Ausland, speziell jener aus dem Banat und Siebenbürgen, vor und nach dem Exodus und ihre Spiegelung in der literarischen Welt vor dem Hintergrund der tatsächlichen Abläufe. In Erlangen belegte ich gleich ein Seminar über die Außenpolitik des Dritten Reiches; in Freiburg eines zum Thema „Deutsche Identität“ - das eine Reihe von Köpfen der jüngsten deutschen Geistesgeschichte bewegt hatte. Eine Materie, die am Anfang der „konservativen Wende“ deutscher Politik unter Kanzler Kohl, Teile der Nation genauso faszinierte wie das bald aufkommende Thema „Heimat“.
Noch brennender interessierte mich jene „regionalspezifische Identität“, die bald in einer gesamtdeutschen Identität aufgehen sollte. Was ich aber in der Diskussion um Vergangenheitsbewältigung und Identitätsfindung vorfand, kam einem inneren Konflikt gleich, einer Art Selbstzerfleischung, die mich nachhaltig befremdete und irritierte.
Die frühen Achtziger Jahre waren in meinem Lebensablauf Jahre der Loslösung von der Vergangenheit durch Auseinandersetzung mit ihr und Jahre des Neuentwurfs und der eigentlichen Selbstfindung. Das bisherige Schicksal, auch die Rolle des Widerständlers, war durch die dortigen Verhältnisse determiniert worden. Jetzt war ich richtig frei und konnte selbst bestimmen, wie es weiter gehen sollte.
An einem Kreuzweg angekommen, bot sich mir die Gelegenheit, zwischen einem leichteren und einem schwierigeren Weg zu wählen. Dabei fiel meine Entscheidung zugunsten des unsicheren geistigen Weges aus. Die idealistische Haltung sollte beibehalten werden, weil sie mir wesensgemäßer erschien als alles, was mit materiellen Werten und bürgerlichem Sicherheitsdenken zusammenhing. Also wählte ich die Experimentalexistenz, den Weg durch den dornenreichen, steinernen Garten, die gefährdete Existenz des Künstlers, die selbst Genies wie Mozart vor unlösbare Probleme gestellt hatte. Seine Bettelbriefe warnend im Ohr, entschied ich mich trotzdem für den gefährlicheren Weg, der das frühe Scheitern implizierte. Als Bergsteiger wollte ich hinauf; als Taucher wollte ich in die Tiefe. Die akademischen Freiheiten boten mir viel und halfen mir dabei, den unersättlichen Informationshunger der letzten Jahre zu stillen. Während ich regulär den Studien nachging, versuchte ich, nach allen Seiten hin offenzubleiben und die Argumente sprechen zu lassen. Vom liberalen Freiburg aus beobachtete ich einzelne politische Talente und das Formieren der grünen Umweltbewegung zu einer Partei; gleichzeitig verfolgte ich die Gründung der Republikaner unter ihrem Führer Schönhuber, der seinerzeit mit einer Buchpublikation in die Diskussion um die „Deutsche Identität“ eingriff. Linke und rechte Positionen prallten aufeinander. Irgendwo in der liberalen Mitte war mein Standort. Von dort aus schweiften meine Gedanken zurück zur Identitätsauseinandersetzung, die ich dann anhand anderer Materialien aus der Herkunftsregion zu objektivieren versuchte. Unter anderem rezipierte ich auch einiges von dem, was im Banat und in Siebenbürgen verfasst worden war, auch konservative Positionen aus dem Vertriebenenumfeld im Westen und versuchte dabei, den eigenen Standpunkt auszuloten, da ich die Identitätsfindung für mich und für andere in meiner Situation als sehr wichtig empfand.
Der Krieg hatte viele Identitäten verwischt. Die einen, die von einem deutschen Wehrmachtsoldaten in einer seltenen Liebesnacht irgendwo im besetzten Frankreich gezeugt worden waren, suchten nach ihrem Vater, während sie die nackte Mutter, mit einem Hakenkreuz auf der Brust und mit kahl geschorenem Kopf über den Bildschirm huschen sahen. Andere kamen aus den Tiefen der Great Plains, um die Knochen ihres Vaters, der in den letzen Kriegstagen über Berlin abgeschossen worden, war, auszugraben, um diese heim nach Amerika zu bringen und sie auf dem Heldenfriedhof in Arlington feierlich zu bestatten. Seelenruhe tritt nur dann ein, wenn alle ihren Frieden gefunden haben, wenn die Rätsel der Existenz, die um die Identität kreisen, endgültig gelöst sind.
Mir wurde klar, wie sehr das gesamte Weiterleben der Betroffenen, auch jener aus unserem Raum nach dem Exodus und ihrer Nachkommen, davon abhängen konnte. Ihre optimale Integration und ihre künftige Lebensqualität, ihr Wohlfühlen in der Bundesrepublik, waren davon unmittelbar abhängig. Deshalb sah ich genau hin, was einzelne „zu schreiben hatten“ und hörte aufmerksam zu, was „sie zu sagen hatten“, ohne jedoch ad hoc in die Diskussion eingreifen zu wollen. Jeder darf frei entscheiden, wann er eingreift und wie. Vieles von dem, was ich dazu zwischen 1984 und 1987 etwa im „Spiegel“ las, empfand ich schlicht als „persönliche Beleidigung“. Und je wissenschaftlicher die Kriterien waren, die ich ansetzte, desto fragwürdiger erschienen mir die journalistisch wie belletristisch ungehemmt in die Welt geschmetterten Thesen einzelner Protagonisten. Das Gelesene rezipierte ich nach allgemein politischen, historischen, psychologischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Kriterien - und ich rezipierte „kritisch“ wie ein „Betroffener“, der sich der Freiheit besinnt, sich zu wehren.



©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.

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