Montag, 6. Dezember 2010

Das „Jekyll & Hyde-Syndrom“ – eigentliches Sein, Bewusstsein und „Gesunde Schizophrenie

Das „Jekyll & Hyde-Syndrom“ – eigentliches Sein, Bewusstsein und „Gesunde Schizophrenie“


Wenn ich morgens vor den Spiegel trat, mir den Schlaf aus den Augen rieb und die Zähne begutachtete, die von einem habgierigen Zahnarzt mehr in Mitleidenschaft gezogen worden waren als von dem hinter mir liegenden Gefängnisaufenthalt, drängten sich mir Fragen auf, wiederkehrende Fragen, in welchen sich immer noch das Ringen um Identität und adäquates Sein spiegelte: „Wer schaut mich aus dem Spiegel an? Bin ich das? Und wer bin ich eigentlich?“
Da ich nun seit einigen Monaten ein Deutscher unter Deutschen war, musste ich mich nicht mehr von anderen Nationen abgrenzen wie bisher, um das zu sein, was ich immer schon war. Diesmal fragte ich mehr nach meiner Bestimmung, nach meiner Existenz, nach meinen Antrieben, nach meiner Rolle in Staat und Gesellschaft und nach meinem Bewusstsein, das doch mein Sein bestimmte? Doch bestimmte das Bewusstsein das Sein – oder war es doch die anstehende Aufgabe, die mich zu dem machte, was ich war? Was stand heute gerade an: Eine Reise in Mission nach Paris oder Genf als Sprecher der inzwischen unterdrückten Freien Gewerkschaft SLOMR im Westen? Oder nur das monotone Drücken einer Schulbank im nahen Aufbaugymnasium auf dem Weg zum Abitur?
Identität und Existenz schienen gespalten – und mit ihnen das Bewusstsein: „Wer war ich nun wirklich: Doktor Jekyll oder Mister Hyde?“ Ungewollt und unwillkürlich hatte ich ein „Identitätsproblem“, doch kein moralisches, wie in der berühmten literarischen Vorlage des Robert Louis Stevenson, dessen Erzählungen ich in der frühen Jugend verschlungen hatte, sondern eines, das zwischen dem „Sein in der Uneigentlichkeit“ und einem „angemessenen Sein in der Eigentlichkeit“ angesiedelt war. Martin Heidegger hat viel darüber nachgedacht und einiges beschrieben. Ohne dass es mir damals richtig bewusst gewesen wäre, laborierte ich zudem an einer „unfreiwilligen Ich-Spaltung“, die bis zu einem gewissen Grad sogar von der getragenen Kleidung anhängig war: Des Kaisers ewig neue Kleider Tag für Tag - auch bei mir?
Der gesellschaftliche Blick reagierte darauf und „erwartete“ einiges. Nicht von der Person an sich sondern von jener Figur, die in der Kleidung steckte. „Was sollte ich anlegen und welche passende Mine sollte ich noch dazu aufsetzen - die der kühl reservierten, integren Persönlichkeit oder jene des verspielt gelangweilten Gymnasiasten?“ Anzug oder Jeans? Das war nun die Frage! Selbst als es mir auffiel, dass die äußere Kluft mich festnagelte und somit mein Verhalten, Bewusstsein und Sein bestimmte, zudem auch noch meine Freiheit untergrub, machte ich mit und ließ mich treiben, weil es keine Alternative dazu gab. Schließlich konnte ich nur mich ändern, indem ich meine Mitmenschen durch ein inadäquates Aussehen provozierte, schwer aber die Gesellschaft. Hatte ich nicht das, was Kyniker wie Diogenes von Sinope vor zweitausend Jahren auf dem Markt von Athen vorexerziert hatten, nicht längst in Temeschburg ausgetestet, damals am Sitz der Partei? Farbig Buntes provozierte und weckte auf - auch als Kleidung, die modisch der Zeit voraus sein konnte oder ewig klassisch konventionell. Die rumänischen Tagelöhner der Bauern im Banat waren einst „blumig bunt“ gekleidet - und die Wanderzigeuner, die durch das Dorf kamen, auch. Irgendwann hatte ich es ihnen dann nachgemacht, intuitiv, nur mit anderen Farben, Emblemen und Symbolen. Jetzt kam dieses Motiv wieder, wie im Bolero, nur auf anderem Niveau, mit einem anderen Selbst in einer anderen Gesellschaft. Doch wer war das „Ich“ dahinter denn nun wirklich? Eine Person der Zeitgeschichte, ein „Zeitzeuge“, der gerade antrat, um über die UNO eine internationale Beschwerde gegen die Regierung der Diktatur in Bukarest mit vorzubereiten oder doch nur ein unbedeutender Abiturient kurz vor der Reifeprüfung? War ich eine Ausnahmeexistenz mit höheren Aufgaben oder ein ganz normaler Schüler unter vielen anderen?

Foto: Privatarchiv Carl Gibson

Abiturient Carl Gibson in Rottweil (1981)

Was wussten die anderen überhaupt von meiner Vergangenheit, meine Lehrer? Nichts oder fast nichts! Deshalb blieb es bei einer „inneren Diskrepanz“, mit der ich leben musste wie ein Schauspieler auf der Bühne, der im virtuosen Rollenspiel immer neue Charaktere aufleben lässt und in stets neue Identitäten schlüpft! War auch ich ein Chamäleon? Mehr äußerlich als innerlich und moralisch betrachtet? So konnte es aussehen, wenn manche Dinge falsch interpretiert wurden. Die Identitätszäsur war da. Und diese nicht selbst herbeigeführte „Ich-Spaltung“ wurde mir erst nach einiger Zeit der Selbstbeobachtung voll bewusst. Dann aber kokettierte ich mit ihr und akzeptierte sie als „gesunde Schizophrenie“, die auch ihren Reiz hatte.
Allerdings gestaltete sich die tatsächliche Umsetzung eines Lebens mit „gespaltener Identität“ nicht ganz so einfach und harmonisch, weil die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen ein Ganzes ist und ein Individuum seine von innerer Wahrhaftigkeit bestimmte Identität nicht an der Pforte abgeben kann. Als Folge davon nahm ich den bereits ins Blut übergegangenen Regimekritiker, den Dissidenten, den Nonkonformisten, den Querkopf und Querulanten, den Stigmatisierten und den mehrfach von verschiedenen Seiten sogar zum „Anarchisten“ Abgestempelten, alles Bilder, die ich innerhalb der letzten Jahre ausgebildet hatte, in die reguläre Schulklasse mit. Auf viel Unverständnis treffend, machte ich mit der dort oft aneckenden Haltung entsprechende Erfahrungen. Was aus meiner Sicht einem natürlichen, normalen Verhalten entsprach, wurde von neutraler Warte aus als entrückte Extravaganz wahrgenommen, als hypertrophe Hybris.

Foto: Monika Nickel

Markttag in Rottweil.




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