Montag, 6. Dezember 2010

Heilsbringer und Psycho-Sekten – von der „Freiheit der Religion“ in die Un- Freiheit

Heilsbringer und Psycho-Sekten – von der „Freiheit der Religion“ in die Un- Freiheit


Mir, dem von Heilslehren längst Geheilten, blieb nur das verblüffte Zusehen. Wieder war ein „Großer Bruder“ da, der Weisungen gab, der bestimmte - doch kein Staat, kein finsterer Diktator, dem man sich unterwarf, um physisch zu überleben, sondern nur ein bübisch grinsender „Säulenheiliger“, ein „Scheinheiliger“, ein „Sadu“ mit Sinn für Sinnliches und Materielles in allen Formen, der fernöstliche Meditationstechniken und abendländischen Hedonismus zu einem verführerischen Sud mischte. Die etablierten Religionen, der Buddhismus nicht ausgenommen, vergifteten nach seinem Ausspruch das Bewusstsein der Menschen.
Was bewirkte sein verlockender Eklektizismus? Tatsächliche Selbstbefreiung? Die Selbstaufgabe und das Eintauchen in Pseudowerte waren aus der Sicht meiner Kommilitonen allerdings chic, exquisit und zeitgemäß. Einer von ihnen hatte bereits einige Monate in einem buddhistischen Kloster in Burma meditiert, bei einer Handvoll Reis pro Tag, bis er des langsamen durch den Raum Schwebens überdrüssig geworden war. Guru Baghwan bot jetzt mehr Kurzweil an, körperliche Betätigung, Bewegung bei Tag und Nacht - und dem, der nicht genügend Geld mitbrachte, neben „ora“ auch etwas „labora“ in den Hängenden Gärten von Poona.  
Die „Freude des kleinen Mannes“, die nackte Triebbefriedigung als uneingeschränkte Promiskuität, wurde so lange ausgelebt, bis die Ansteckungsquoten in die Höhe schnellten und die Immunschwächekrankheit AIDS zur Gefahr für die gesamte Sekte auszuarten drohte. Während ich dem egoistischen und intoleranten Treiben als verblüffter Kommilitone zusah und beobachtete, wie aus einst freien Individuen und freundlichen Naturen, scheinbar glückliche, doch in jeder Beziehung unkritische und in sich gekehrte Sklaven wurden, sahen sie in mir einen leichten Neurotiker, der von Zwangsvorstellungen getrieben, durch die Gegend eilt und vor dem „die ganze Welt bedrohenden Kommunismus warnt“, ganz so wie einst die alttestamentarischen Propheten und Savonarola mit dem göttlichen Endgericht drohten.
Meine Aufklärungsversuche und Appelle prallten an ihnen ab und verhallten ungehört. Aus ihrer enthemmten Sicht war ich der Gehirngewaschene, der blinde Fanatiker: „Setz dich doch einmal vor die Wand und rede mit der Wand“, suggerierte mir einer aus unserer Wohngemeinschaft, der, frühmorgens, wenn ich - nach langen Studien in der Nacht - ausschlafen wollte, mit tosendem Getrampel seine „Rüttel- und Schüttelmeditationen“ ausführte und dabei, nach Baghwans Empfehlung, die in der Nacht aufgestauten Aggressionen aus dem Leib schrie – in einem „Urschrei“! Der Sexualakt hatte offensichtlich nicht ausgereicht, um die Aggressionen, die auch diese Chamäleons, passend zur Baghwankluft, blutrot verfärbten, aktiv abzuarbeiten.
Die immer intoleranter werdenden Baghwan-Jünger drehten sich im eigenen Kreis, nur mit sich und ihrem eng definierten Glück beschäftigt, das im Wesentlichen nur eine Lust war. In den philosophischen Lehren des Aristippos oder des Epikur, die mich ein Stockwerk tiefer in meiner Wohngemeinschaftsecke beschäftigten, war der feine Unterschied zwischen „eudämonistischer Lust“ und „ethisch definierter Glückseligkeit“ sehr deutlich herausgearbeitet worden.
Nur bevorzugten diese Chamäleons die für westliche Sinne konzipierte Synthese des Baghwan, dessen Ashram seinerzeit selbst noch im amerikanischen Oregon toleriert wurde. Sie umkreisten ihr Ich wie ein Skorpion, der seinen Stachel gegen sich selbst richtet. Solch eine desinteressierte, solipsistische Haltung ärgerte mich zwar und wühlte mich innerlich auf, doch sie beeindruckte mich nicht. Denn nicht ich war dem religiösem Eiferertum und den Abwegen der Esoterik nahe, sondern die modischen Sektierer waren es. Fern davon entfernt, mich mit den Denkansätzen Baghwans mental und analytisch auseinanderzusetzen, die teils stark polarisierten, sicher aber auch einige faszinierende Elemente aufwiesen, beschränkte ich mich auf das, was vor meinen Augen ablief. Aus einst offenen Menschen wurden nach der Bekehrung willenlose Sklaven – wie nach einer Gehirnwäsche. Das genügte mir. Deshalb setzte ich nach wie vor auf das Empirische, auf die Fakten und auf das tatsächlich Erlebte - auf die überprüfbare Wahrheit der Realität - nicht auf die erfundene Wahrheit, die andere in ihren „surrealistischen Fiktionen“ vorgaukelten.
Als ich auf dem Weg zur Tübinger Universität gelegentlich in Stuttgart umstieg und vom Bahnhof aus über die Königstraße schlenderte, um mir in einem der besser sortierten Schallplattenläden eine Symphonie, eine Sonate, ein Konzert oder eine seltene Liedvertonung zu besorgen, wurde ich eines Tages von anderen „Heilsbringern aus Übersee“ angesprochen, von Mitgliedern einer aggressiv agierenden Wissenschaftssekte die mir, dem Fisch, als ersten Köder einen „Psychotest“ anboten. Arglos opferte ich die halbe Stunde und machte mit; doch teure Kurse buchte ich keine. Die anschließend mitgelieferte Interpretation des Computerdiagramms mit dem plumpen Hinweis auf meine schwache, noch ausbauwürdige „Seelenkonstellation“ und mein fehlendes Selbstbewusstsein beeindruckte mich genauso wenig, wie später die „Ying-Yang-Rezeptur“ einer fernöstlichen Psycho-Sekte am Ufer des Mains in Würzburg, die eine „ganzheitliche Weltsicht“ für sich reklamierte, die aber von Toleranz genau so viel hielt wie die missionierenden Amerikaner in Stuttgart und bald darauf die „Mormonen“ in Heidelberg.
Mit den Anhängern der Kirche der Heiligen der letzten Tage, die es mehr auf Mitgliederzuwachs und auf den abzuliefernden Zehnten abgesehen hatten, als auf die „Freiheit des Individuums“ und der oft zwangsverheirateten Frau, verbrachte ich einige schöne Tage im zwischenmenschlichen Dialog. Es waren Menschen, die als „Menschenfischer“ ausgesandt worden waren, aber den Fisch in Menschenhaut verpassten. Die Welt ist bunt, lehrten die Meister der Chamäleons. Durfte ich da widersprechen? Trotzdem hielt ich instinktiv dagegen, besann mich schlicht auf die Freiheit, widerstehen zu können und widerstand, während andere aus meinem weiteren persönlichen Bekanntenkreis, auf ihrer Suche nach Geborgenheit im Hafen der Sekten nur das endgültige Scheitern vorfanden, bis hin zum nicht mehr freien Tod.

Freiburg im Breisgau -
während meiner Studienzeit (1983/84) war die Stadt ein Mekka der Baghwan-Anhänger.



©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.

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