Donnerstag, 1. September 2011

Auf dem Misthaufen








Draußen vor der Tür, auf dem großen Misthaufen im Hof, vervollständigte er Wissen und Methode, indem er sich die Grundzüge der Erkenntnistheorie selbst beibrachte. Nicht die dicken Wälzer in der Bibliothek, sondern die konkrete Natur vermittelte ihm bald, was Beobachtungen sind, wie man darüber reflektiert und zu empirischen Urteilen kommt. Als er dann doch noch in Lockes Werken herum stöberte, wusste er das meiste davon schon aus eigener Anschauung und Erfahrung.
Der Wissensdurst trieb ihn an und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Nordisch, sagte man, war dieser Drang, während die südlichen Tiere vergnügt im lauschigen Hain vor sich hinträumten. Rätsel gab es noch viele zu lösen.
Und allzu viele Erfindungen waren noch nicht gemacht.
Was war die Welt?
Und was war hinter dieser Welt?
Das Dahintergucken beschäftigte ihn, der Urgrund, das Wesen, die Hinterwelt an sich und des Pudels Kern.
Mit sanfter Gewalt öffnete er das Gehäuse der Taschenuhr, um das Räderwerk zu studieren. Er wühlte wild im Mist vor der Tür und sah dann den roten Regenwürmern zu, wie sie tausendfach das Glück des Wurms genossen. Den Ameisenhaufen zerstörte er nur, um die fleißigen Insekten dabei zu beobachten, wie sie alles nach einem geheimen Plan wieder aufrichteten.
So erschloss er sich Prinzip und Detail.
Dann wandte er sich der Verhaltensforschung zu, genau hinsehend, was um ihn ablief und fragend weshalb. Also studierte er nicht nur die Esel seines Umfelds, ihrePhysiognomien und Charaktere, die merkwürdige Sprüche abgaben. Auch andere Arten beschäftigten ihn. Die Fische im nahen Bach in ihrem Drang, gegen die Strömung zu schwimmen, die freien Singvögel in den Baumkronen und die ewig scharrenden Hühner im Hinterhof. Nach ihrer Seele fragend und dem Glück ihrer Seele studierte er das Leben der Hühner aus der Nähe; er beobachtete ihre emsiges Suchen nach einem Korn; er vernahm das aufgeregte Gackern und sah ihr gelöstes Glück, wenn sie ein Ei gelegt hatten.
Offensichtlich hatte das Glück viel mit erreichten Zielen zu tun, mit nahen und mit fernen Zielen.
Begeistert beobachtete er das Walten der Hormone in der Natur; und stellte fest, wie schnell aus einer Legehenne eine sorgende Glucke wurde, die um das Wohl ihrer Kücken bemüht, mit besten Leckerbissen lockte und erst dann fraß, wenn all die Kleinsten satt waren. Und mit Staunen stellte Faustinus fest, wie sie alle hurtig ins schützende Gebüsch stoben, wenn hoch oben in den Lüften erstmals der Habicht aufschrie.
Ein Schrei! Ein Aufschrei! Ein Eselschrei! ?
Der Ur-Schrei der Natur – er konnte allen zum Verhängnis werden, so oder so. Angst war in den Tieren und mächtige Triebe, Kräfte, die nichts mit Verstand zu tun hatten oder mit Vernunft.
Trotzdem war Ordnung in dieser Welt und viel Aufopferungsgeist für andere, für die Kleinen und für die Schwachen.
Später beobachtete Faustinus noch einige merkwürdige Phänomene, sonderbare Entwicklungen und Prozesse, die ihm zu denken gaben. Verblüfft sah er zu, wie der sonst stolze Gockelhahn plötzlich aus einem Hinterhalt heraneilend sich feige auf eine Henne stürzte, sie mit scharfen Krallen zu Boden trat, sie mit einem gezielten Schnabelschlag auf den Hinterkopf lähmte, um sie dann für sekundenlang wild zu rütteln und zu schüttelten, das es staubte.


Musste das so sein?
Und war diese rohe Gewalt in der Natur gerechtfertigt?
Von einem angeborenen Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit verleitet, fuhr Faustinus einmal mit dem Besen dazwischen und verjagte den Hahn. Während die bunten Hahnenfedern durch die Luft wirbelten, durfte ihm der Vater den tieferen Grund des schrecklichen Vorgangs erklären:
„Ja, das muss so sein!“
belehrte er ihn.
„Die allezeit weise Natur hat das so eingerichtet, sonst würde es später keine Kücken geben. Wenn du größer bist und reifer, wirst du diese Dinge einmal verstehen. Zucht und Züchtung sind so vorgegeben im Buch der Natur. Und die Züchtigung, die haben wir selbst erfunden!“ Der zarte Faustinus nahm diese Vertröstung hin, doch unbefriedigt wie auch andere verzwickte Knobeleien, die keiner knacken konnte.
Tage später blieb ihm das Herz fast stehen, als ihm die Natur ein noch grausameres Schauspiel bot. Von Übermut getrieben oder Bosheit, ging der gerade erst gemaßregelte Haushahn mit stolz gestellten Schwanzfedern nun auf die Glucke los. Schützend vor ihrer Brut aufgerichtet, nahm diese den aussichtslosen Kampf an und kämpfte tapfer mit dem Mut der verzweifelten Mutter, bis sie der Übermacht des Stärkeren erlag. Abgedrängt musste sie dann mit Faustinus zusehen, wie der Überhebliche auf die Kleinsten einhackte, nicht ohne Lust, sie alle tot zu picken.
War diese Gnadenlosigkeit gerecht?
Oder war die Natur selbst schon dekadent geworden und dabei, sich zu zerstören?
Der Todestrieb der Lemminge – wirkte er auch hier?
Jetzt gab es kein Halten mehr. Zur Korrektur entschlossen, griff der kleine Esel wieder in den Plan der Schöpfung ein, stürzte sich auf den gerade schon triumphierend aufkrähenden Gockelhahn und versetzte ihm einen wuchtigen Hufschlag. Dabei traf er den Frevler so schwer, dass dieser wie ein Ball durch die Luft wirbelte und erst auf dem Misthaufen halbohnmächtig zum Liegen kam.


Ja, das war gerecht - und die Revanche für die schlimme Tat!
Die arg gebeutelten Legehennen hatten zwar allesamt den tückischen Angriff aus dem Busch überlebt; sie hatten sich empört geschüttelt,  waren dann aber doch weitgehend mit dem Schicksal versöhnt wieder von hinnen gezogen.
Doch was war mit den kaum erst geschlüpften gelben Kücken?
Waren die Kleinsten und Schwächsten auch schon dem scharfen Schnabel des Kampfhahns gewachsen, der wild um sich pickte, ohne kleinen Eseln Respekt zu zollen?
Aus der unmittelbaren Naturbeobachtung heraus formte sich eine Moral, ein ethisches Denken, das den Aufwärtsstrebenden einnahm, sein Handeln prägte und sein bisher rücksichtsloses Suchen begrenzte.
Im dunklen Drang fühlte Faustinus etwas von der Ungerechtigkeit seines Umfelds. Und er merkte, wie er dabei traurig wurde und die sanfte Melancholie sein Gemüt beschlich, vielleicht ahnend, dass kein Glück möglich war in einer ungerechten Welt.
Die Hackordnung war da – und sie war gnadenlos! Sie war etwas, was ein Eselchen nicht ganz begreifen konnte. Trotzdem schien die weise Natur alles gerade so eingerichtet zu haben.
Was konnte ihn trösten?
Das eigene Los oder die eigene Bestimmung?
Vielleicht die Tatsache, dass er selbst in diesem Leben keine Termite war, kein niederer Wurm im Staub und auch kein kleines, gelbes Kücken unter dem Schnabel des mächtigen Gockelhahns, sondern ein wahrer Esel - und somit ein höheres Wesen, das sich, wenn die Situation es verlangte, wehrhaft auf die Hinterbeine stellen konnte!




Copyright: Carl Gibson

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