Donnerstag, 1. September 2011

Mentor Felix






Fixpunkt im Leben des jungen Faustinus war viele Jahre Felix, der Sterndeuter, der ihm ein Lehrer war und ein väterlicher Freund. Von den vielfachen Talenten des Kleinen angetan, weckte er als erster in ihm die Begeisterung für Ideale, die Lust am Umgang mit den Wissenschaften und die Liebe zu den Künsten, vor allen die Hinwendung zur Poesie, zur Malerei und zur göttlichen Musik. Vieles von dem Wissen und Können, der Meister sich im langen Künstlerleben angeeignet hatte, war er bereit, nunmehr an den Schützling weiter zu geben, beginnend den Fertigkeiten des Handwerks bis hin zu den Grundzügen des Denkens und Handelns, ja selbst bis hinein in Untiefen der Alchemie.
 „Was ist ein Meister, ohne den würdigen Schüler“,
rief er manchmal aus, wenn Faustinus etwas schnell begriffen oder auf Anhieb eine besondere Kunst hervorgebracht hatte. Die spendende Tugend, großzügiges Schenken aus der Überfülle heraus, das war Felix! Er gab alles und erwartete nichts, keinen Dank und keine Heuchelei. Strahlende Kinderaugen, ein Lächeln, das war ihm Lohn genug und erfreute sein Herz. Als bald höherer Wissensdurst sich zu regen begann, schenkte ihm Felix ein paar nützliche Instrumente zur Erkenntnisförderung – ein schlankes Fernrohr zum Abtasten des Horizonts bei Tag und für die Himmelsbeobachtung in klarer Winternacht; ein Mikroskop fürs Labor, um das fürs tierische Auge Unerkennbare sichtbar zu machen, eine Flöte für vergnügliche Stunden und später auch noch eine kleine Fiedel.
Wer annahm, Eselhufe taugten nicht zum feinen Griff, der irrte gewaltig. Esel waren musikalische Wesen. Sie konnten nicht nur die Harfe spielen, sie schlugen auch die Laute, konnten tuten, blasen, singen und vortrefflich Arien schmettern, trillern.
Manchen Musikanten hatte sie schon hervorgebracht, lange vor Bremen. Sie konnten rezitieren, deklamieren und sogar reimen. Manches schöne Carmen kam von einem Esel!
Kaum ein Tag verging, an dem der Wissensdurstige nicht um Felix war - im Atelier, in der Werkstatt oder in der Natur. Alles interessierte ihn, ganz egal ob Wissenschaft oder Kunst. Fasziniert sah Faustinus dem Tausendsassa zu, wenn er an der Staffelei stehend in sich gekehrt bezaubernde Grazien schuf, ewige Jugend in vollendeter Schönheit auf die Leinwand bannend. Und sinnend lauschte er neuen Tönen, wenn Felix am Klavier improvisierte, variierte, modulierte, komponierte, wenn er zum Cello griff oder wenn er ekstatisch, vom Wein angeheitert einen wilden Teufelswalzer herunter fiedelte.
Vom Meister vielfach ermutigt, experimentierte Faustinus bald selbst, im Atelier zunächst und dann im Labor. Er formte das Holz und meißelte den Stein, er mischte Farben, brannte Ton und bald auch Porzellan, er schmiedete glühendes Eisen bis zum tödlich scharfen Damaszenerstahl, er schmolz Metalle, vermengte sie zu bunten Legierungen, goss Bronzestauen und tönende Glöcklein daraus - und staunte über Wandel und Neuwerden, über vielfache Metamorphosen der Dinge und das Walten der Elemente dahinter, bis er selbst zum Eingeweihten wurde:
„Alles strebt höherer Veredelung zu, der Erhöhung und Besserwerdung“.
- „Also wird auch das Tier diesen Weg hinauf beschreiten müssen, wenn es Unzulänglichkeiten der Bestie überwinden will“,
schloss Faustinus daraus.
Gemeinsam zimmerten sie Schifflein aus weichem Holz, die hinaus fuhren im nahen Teich.
Sie bauten Drachen, die aufstiegen im Wind.
Vieles war machbar im Spiel und Ernst – und spielend erfuhr der Gelehrige ernsthafte Dinge. Doch war auch alles erlaubt?
Durfte er die Rakete zünden und zu den Sternen senden, die er im Verborgenen gebaut?
Wo ging sie nieder?
Und mit welchem Knall?
Walle, walle mache Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe … Wo war die Grenze?
Durfte ein Esel alles, was er konnte? Oder gab es ethische Beschränkungen, die einsetzten, noch bevor ein Unglück geschah?
Der Zauberlehrling schreckte zurück, obwohl die Lust ihn antrieb, die Grenze überschreitend Verbotenes zu wagen.
War endgültige Erkenntnis überhaupt möglich, ohne Schranken zu durchbrechen, Fesseln zu sprengen und alte Gesetze aufzuheben im Versuch?
War nicht alles ein Experiment, eine Expedition ins Unbekannte?
Felix sah die Reize wohl, die Verlockungen, die Lust, Altes zu zertrümmern, um Neues möglich zu machen. Trotzdem, dort, wo die Selbstüberschätzung einsetzte, wo Hybris aufkam, selbstgefällige Verstiegenheit, sündhaftes Verhalten, dort warnte der Mentor, obwohl er ein Freigeist war, riet zur Mäßigung und zur Selbstbeschränkung in Wissenschaft und Kunst.
„Mit den Göttern darf sich nicht messen das Tier“,
mahnte er fromm, zum Maß ratend und zur goldenen Mitte der Alten. Die Weisheit des Alters redete aus ihm, während Faustinus immer noch ein entfesselter Prometheus war, der ikarusgleich zum Himmel strebte. Der erhobene, Einhalt gebietende Zeigefinger kam oft dann, wenn Faustinus nach dem Verbotenen schielte, wenn er nach der Schwarzpulvermischung nun auch das Dynamit anging oder aus Viperngift ein Liebeselixier fabrizierte.
Erkennen und Wagnis bestimmten ihn – und ein starker Drang dahinter, der stärker war als die ethische Selbstbeschränkung. Etwas war in ihm, was ihn antrieb und was ihn über sich hinaus trieb, etwas, was sein Selbstsein ausmachte. Felix hatte schlummernde Geister geweckt und gerufen - als Katalysator und wohlmeinend als Mentor.
Doch wer drängte sie jetzt, wo sie frei waren, wieder in die Flasche zurück?
Wer schloss sie wieder, die Büchse der Pandora?
Würde Faustinus später einmal die Grenze zwischen Selbstentfaltung und überbordender Vermessenheit erkennen?
Würde er innehalten, ausharren oder umkehren?
Oder würde er über das Ziel hinaus schießen und vielleicht tragisch enden?
Beide Wege waren in ihm angelegt – und für beides hatte ihn der gute Lehrer sensibilisiert, Felix, dieser „Glückliche“!
So nannten sie ihn in Concordia, weil er – wie es schien – mit sich im Einklang lebte! Ob er selbst glücklich geworden war im Leben? Zumindest schien er es immer zu sein! Sein Blick war allezeit gütig, seine Stimmung heiter und seine Zuversicht unendlich. Das Wahre, Schöne und Gute waren seine Welt! Und er lebte ausgewogen, im Einklang auch mit dem Universum, stets gelassen wie einer, der sein Selbst gefunden hat, der in der Eigentlichkeit lebt und handelt, und der die Freiheit in sich trägt und von ihr Gebrauch macht. Die Harmonie des unendlichen Kosmos spiegelte sich in seinem überschaubaren Selbst. Der Imperativ: „quod bonum faustum felix fortunatum que sit“  was gut und günstig, glücklich und gedeihlich sei, ein Satz, der beide Schicksale verknüpfte, kam ihm oft und gern über die Lippen.
Und weil es so war, musste Faustinus immer wieder über den tieferen Sinn des Satzes nachdenken, über dieses festlegende nomen est omen und über die konsequente Übereinstimmung von Wort und Tat, von praktischem Handeln und tatsächlicher Existenz - und somit über ein Modell, das ihm der Alte unerschütterlich vorlebte.
 „So hatten sicher auch Seneca, Mark Aurel und die anderen Stoiker gelebt“, spekulierte Faustinus Optimus, ohne rechte Lust zu überprüfen, ob es wirklich so war.
 „Wer Höheres erstrebt“, das setzte sich bald in seinem sturen Eselsschädel fest, „der muss an seinen Idealen festhalten, an den regulativen Ideen zum Hinauf“, prometheisch, faustisch.
Mäßigung, Selbstbeschränkung fördern nur Kleingeistigkeit und Mittelmaß, die Tugenden der Spießer und Versager. Erst etwas wagen, war angesagt. Rückschläge, Desillusion und letztes Scheitern kamen kam sowieso früh genug!
Obwohl Faustinus einsah, wovor ihn der verehrte Erzieher bewahren wollte, fügte er sich nicht.
„Hier stehe ich … und kann nicht anders! Wenn ich nicht ich selbst sein darf, dann will ich überhaupt nicht sein! Und lieber will ich unter einem Misthaufen begraben liegen, als all den Mist der Welt so mitzutragen wie bisher“.
Aller Rückschläge, Enttäuschungen und Heimsuchungen zum Trotz: Wenn er denn erkannt haben würde, was die Welt immer Innersten zusammen hält, dann wollte er sich wacker daran machen, sie zu verändern.

Nach einigen Jahren intensiver Ausbildung starb sein Erzieher und ließ Faustinus traurig in der Welt zurück. Das helle Lachen unbeschwerter Kindheit war vorerst dahin und auch die Heiterkeit der kindlichen Seele. Zum ersten Mal fühlte Faustinus etwas, was über das Traurigsein hinausging. Dass es die Melancholie war, die ihn umfing, ahnte Faustinus jedoch noch nicht.
Auf einmal war er nun ganz auf sich selbst gestellt. Und das war gut so. Fortan erledigte Faustinus in Rückbesinnung auf die Anweisungen und Lehren des verehrten Vorbildes vieles selbstständig – und die manchmal etwas nachsichtigen Eltern räumten ihm die Freiheit ein, es auch künftig so zu halten. Freisein von allen Zwängen und Freiheit zu gewagten Entdeckungen, das waren nunmehr die Reize der kommenden Tage.

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