Freitag, 2. September 2011

Die Eule






Nachdem der heroische Esel sich eine gute Weile durch den Wald gekämpft hatte und irgendwann müde geworden sein Haupt der Sonne zuwandte, um in ihrem Licht Trost und neue Kraft zu finden, sah er im Gipfel einer alten Eiche eine Schneeeule sitzen.
Es schien, als ob sie schliefe. Doch die Eule ruhte nur aus von den Streifzügen der Nacht und dachte beim Verdauen einer Maus, die sie zum Frühstück verspeist hatte, über den Lauf  des Lebens nach –
über das Sein des Seienden und das Nichten des Nichts.
Sie sah den nahenden Esel wohl; doch sie ließ es sich nicht anmerken. Der kleine Held aber scheute es nicht, den stillen Vogel der Nacht anzusprechen.
Schneeeulen sollen besonders weise sein, hatte ihm einst ein alter Esel zugeflüstert. Jetzt konnte er diese Wahrheit selbst überprüfen und vielleicht von dem Weltwissen des über den Dingen schwebenden Geistes der Lüfte profitieren, wenn es denn stimmte, was man Eulen so nachsagte in Athen:
„Eule“,
redete sie der kleine Esel freundlich an,
„ist das hier die große weite Welt, die perfekte Welt, von der die Gelehrten reden in den Hörsälen der Akademie?
Oder gibt es noch eine andere Welt hinter dieser Welt und ein Weltall über ihr, wo ein großer Vater wohnt?“
Die Eule, die wirklich bereits Tieferes vom Wesen der Seinsformen erfasst hatte, merkte natürlich gleich, dass dieser Esel noch grün war hinter den Ohren, aber neugierig und unverfälscht wie die meisten jungen Geschöpfe. Sie durfte seinen Wissensdurst auf keinen Fall hemmen, ihn gar bremsen oder enttäuschen und ihn mit Zweifeln von der Suche abbringen, hinter der vielleicht das Selbst in Erscheinung trat. Deshalb sagte sie ermutigend mit altchinesischer Gelehrtheit:
„Geh’ ruhig weiter.
Der Weg ist oft das Ziel.
Die Schöpfung wird sich dir nicht verschließen. Du wirst noch viele Dinge erleben und manche Erfahrung machen. Und irgendwann wirst du auch Entscheidungen treffen müssen. Geh nur mutig weiter und folge der Stimme deines Herzens … und deinem scharfen Eselsverstand, dann wirst du dein Ziel sicher erreichen.“
Damit wandte sich die Eule etwas gelangweilt ab, schloss die kleinen Augen und versank in ihrem schneeweißen Federkleid. Ihr war schon längst bewusst, das viele Wege zu einem Ziel hin führten und viele Straßen nach Rom oder Athen.
Östliche Wege gab es und fernöstliche.
Gottes war der Orient und Gottes war der Okzident.
Das Schicksal der Welt ruhte in seinen Händen. Nur Atlas musste den Himmel schleppen gleich einem Wüstenschiff.
Der kleine Faustinus aber blieb allein zurück, beschäftigt mit den sibyllinischen Aussagen des lebenden Orakels, in denen viel Weisheit verborgen schien und wenig Klarheit.
War das alles ernst gemeint oder schwangen da noch einige Zwischentöne mit, und ein Hauch von Ironie, der alles gültige Wissen verhöhnte?
Wer Ohren hatte, konnte sehr genau hinhören. Und Esel waren sensible Tiere mit großen Ohren, wahre Meister der Differenzierung, die auch die feinsten Nuancen der Sprache auseinander halten konnten. Nur wusste kaum einer etwas vor dieser Fertigkeit.
Für die meisten Bürger der Republik, denen die Wesenheit der Esel so verschlossen blieb wie jenes Zauberbuch mit den sieben Siegeln, war ein Esel eben nur ein Esel, also ein Vierbeiner mit einem grauen Fell, ein Hase in Großformat, so wie der Tisch ein Tisch und der Stuhl ein Stuhl war, ganz nach dem Leitspruch der Nominalisten im Wald: nomen est omen.
Deshalb weigerten sie sich die Theoretiker auch anzunehmen, es gäbe eine Eselheit – und beriefen sich dabei streng auf Platon. Vorurteile, alles Vorurteile. All das wusste Eselchen Faustinus,der zwar naiv erschien, aber längst nicht dumm war.
Doch was nun?
Wie waren die rätselhaften Worte der Eule zu deuten?
Von einem Ziel hatte der ominöse Vogel gesprochen und von einem Weg dahin?
War ein langfristiges Ziel gemeint, Lebensglück und Zufriedenheit, Tao und Karma? 
Waren es höhere Erkenntnisse, Tugenden?
Wahrheit?
Gerechtigkeit?
Oder gar Freiheit?
Oder nichts vom alledem, nur Nichts und kein Seiendes?
Und bedeutete Freiheit schon Glück?
Oder musste die Gerechtigkeit noch dazu kommen, gar die Gerechtigkeit für alle?
Wie konnten diese Werte als Summe alles Guten auf einmal erreicht werden?
Von schweren Fragen und Gedanken nieder gezogen, trottete das Eselein weiter durch den Wald, ohne ganz zu vergessen, dass ein Suchtrupp des Sicherheitsdienstes schon hinter ihm sein konnte, rüde Häscher, bereit, Vagabunden und Freigeister  jederzeit in Ketten zu legen und zur Fronarbeit im Bruch zu zwingen. Je intensiver Faustinus sich mit solchen Vorstellungen abgab, desto eindeutiger fühlte er sich verfolgt. Nur durfte aus dem Geistersehen im Busch keine Wahnidee erwachsen, kein ausgekochter Verfolgungswahn, der überall auf Gefahren und Feindseligkeiten verwies.
Irgendwo in der Gegend, davon hatte das Eselein gehört, wurde ein großer Kanal ausgehoben, ein Wasserweg für Binnenschiffe, der den großen Strom mit den Weiten der Meere verbinden sollte. Viele Esel schufteten dort im patriotischen Einsatz, freiwillig, wie es offiziell hieß. Und unweit wurde ein fester Grenzwall aus dem Boden gestampft, zum Schutz des gesamten Staates gegen anstürmende Feinde aus Ost und West, so wie einst im alten China.
Viele eingefangene Esel hatten dort bereits ihr Leben lassen müssen, besagten Gerüchte. Und mancher Esel sei in den Fluten der Donau versunken oder nach dem Ableben als Ballast in die Mauer mit eingestampft worden, wussten Augenzeugen zu berichten. Das Drakonische führte dort Regie.
Verstarb ein Verurteilter zu früh an Auszehrung, musste ein Familienangehöriger nachrücken und am Bau weiterschuften – und die bei der Exekution der Aufmüpfigen vergeudete Patrone wurde den Angehörigen ebenfalls in Rechnung gestellt.
Der Wille zur Macht, die Staatsraison und das hohe Ziel der Glückseligkeit aller Tiere in der noch aufzubauenden Gesellschaft des Lichts mit einem Wolf an der Spitze rechtfertigten solche Praktiken. Gnade war unbekannt – und Milde war etwas, was schleunigst überwunden werden musste.
Alle Pazifisten des Tierreichs traf das schwere Los, nicht nur ketzerische Esel. Doch Esel wurden bevorzugt eingefangen und am Mauerbau eingesetzt, weil sie die schweren Lasten am besten zu meistern wussten und weil ihre Tragfähigkeit und Leidensfähigkeit ausgeprägter war als jene anderer Tiere.
Wo Ochsen, Wisente und zähe Kaltblüter scheiterten, machten Esel noch lange nicht schlapp. Sie arbeiteten weiter in Wind und Wetter, oft tagelang ohne Futter und Wasser. Harte Arbeit war Eseln seit jeher vertraut.
Die Esel hatten schon an den Pyramiden mitgebaut und an den Gräbern der Könige vor Theben. Ihre Arbeitskraft galt etwas in der Welt, wo die Wölfe doch nur Vernichter waren.
Während Faustinus solch trüben Gedanken nachhing und dabei unmerklich hypochondrischer wurde, ja melancholischer, stolperte er gelegentlich über scharf ins Fleisch einschneidende Steine oder er rutschte im glitschigen Schlamm aus. Schmerz und Leid wurden ihm bewusster und die Qual, überhaupt leben zu müssen.
Einmal, als es einen Felshang hinauf klettern wollte, um das Gipfelkreuz aus der Nähe zu betrachten, geriet er in einen heftigen Steinschlag, den fliehende Gämsen losgetreten hatten. Einer der kleineren Brocken traf ihn wuchtig am Schädel und ließ es am hellsten Tag funkelnde Sterne sehen. Leicht ohnmächtig geworden kullerte er dann den Hang hinunter, zerzauste dabei sein glattes Fell und verstauchte sich ein Vorderbein. Nunmehr hinkte er in die Welt, angeschlagen wie manche Weisheitslehre, gestützt auf eine Krücke aus morschem Holz, die irgendwann unter seiner Last zusammenbrach und ihn noch einmal strauchelnd stürzen ließ.
Waren dies alles höhere Zeichen, die auf ein großes Scheitern hindeuteten, auf ein Golgatha, ein drohendes Waterloo?
Da Faustinus nicht allzu abergläubig war, ignorierte es das Menetekel und blieb tapfer wie die Furchtlosen im Märchen, die sich von keiner Hürde aufhalten ließen. „Als Held wird man nicht geboren“,
sagte es sich;
„ein Held wird wir man erst durch die Tat!“
Esel waren zäh, dass wusste Faustinus wohl. Aber Esel waren auch zielstrebig und diszipliniert auf ihrem Weg. Das galt unbedingt für ihn selbst, wo er doch immer schon aufwärts streben wollte, so wie andere Gipfelstürmer vor ihm in der Weltgeschichte, stets redlich bemüht als guter Esel im dunklen Drange den rechten Pfad zu finden.
Als konsequenter Bergsteiger wollte er weit hinauf, wie er als Taucher weit hinab und als Wanderer ganz hindurch gehen wollte. Keine Halbheiten wollte er, sondern immer das Maximale – und, wenn immer möglich, vom allem alles: höchste Erkenntnis und höchste Lust.
Wenn ihm eine gütige Fee drei Wünsche frei gestellt  hätte, wären zwei ausreichend gewesen. Bescheiden hätte er nur sich den Stein der Weisen gewählt, den sein Verwandter einst nicht finden konnte – und er hätte, weit besser als Don Juan, alle Eselinnen der Welt verführt und ins höchste Glück geleitet.
Den Blick zu den Sternen erhoben und tagsüber zur leuchtenden Sonne, zog es ihn immer weiter fort und noch tiefer in den dunklen Wald hinein, von der Ahnung geleitet, im Verborgenen noch mehr zu sehen,  noch mehr zu erfahren und in der Hoffnung irgendwo auf den Gral zu stoßen, der Heil bedeutete oder auf den Stein, der alles entschlüsselte und aus dem man Gold machen konnte, der aber, wenn man seine wahre Botschaft verstand, nicht nur profanen Reichtum versprach, sondern geistigen und wahre Existenterfüllung als letzte Zufriedenheit.

Eigentlich war er fast schon ein glücklicher Esel, weil er auf dem Weg war, hin zu den Sternen. Und sein Stern, der heller strahlte als andere Sterne, zeigte ihm den Weg.
Endgültiges Erdenglück, worin das wohl bestand?
In einem Ballen Heu oder in erfüllten Idealen?
Oder war das Glück nur eine Chimäre, der er vergeblich nachjagte?
„Das Wesen eines philosophischen Waldesels ist das folgerichtige Denken, das Nachsinnen über die Struktur der Welt und über die Tiefe der Seele sowie über metaphysische Hinterwelten“, sagte sich Eselchen Faustinus und wurde nicht müde, weiter zu grübeln. Das gelegentlich auch ein paar Widersprüche auftraten, perspektivische Verschiebungen; und dass die Kräfte des Rationalen und Irrationalen im ewigen Widerstreit lagen, das störte es in seinem Sinnen nicht.

Es dauerte Tage, bis der dichte Wald sich lichtete und das bergige Land hügeliger und dann flacher wurde. Weiter ging es bis hinab ins Tal, wo der riesige Strom sich mit Macht seinen Weg bahnte und friedlich träge dahin floss, bis er weit unten im Flachland ein Delta bildete, um sich dann in den ewigen Ozean zu ergießen. Diesem wollte er folgen – bis zur Mündung hin.
Ganz unten in der schwarzbödigen Tiefebene, wo die kräftigsten Gräser wucherten und die schmackhaftesten Kräuter, wo der Rosmarin gedeiht und Thymian, auch Salbei und Basilikum, dort winkte dann als Offenbarung des Erhabenen das Meer. Über das Erleben der großen Natur wollte er ebenso zum Selbst gelangen wie im Austausch mit anderen Tieren des Waldes. Das war ein erster Erkenntnisweg, hinauf zum Gipfel und hinab ins Tal.


Copyright: Carl Gibson

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