Freitag, 2. September 2011

Die Aufforderung zum Tanz






Der Zufall wollte es, dass seinerzeit gerade der Geburtstag des Oberwolfs anstand, der von den Tieren aus Wald und Feld begangen werden sollte. Faustinus war auf einmal mittendrin im Geschehen. Alle Tiere der Gegend versammelten sich auf einer Lichtung, die von Mond und Fackeln in hellstem Licht erstrahlte.
Die Meriten des größten und mächtigsten aller Rudelführer, des Schöpfers der Vorstellung vom glückseligen Lichtstaat, der selbstlos Tag und Nacht über das Gemeinwohl aller Lebewesen nachdachte, sollte in einer großen Festveranstaltung gewürdigt werden. Ovationen sollten angestimmt werden, Chöre sollten singen und lieblichste, allversöhnende Musik sollte zu hören sein, die auf die Glückseligkeit ferner Zeiten verwies. Viel Lobgesang war angesagt, rhythmische Tänze im Fackelschein, ein Feuerwerk für alle Kreatur; und als Grundlage des Ganzen war ein genüsslicher Schmaus angedacht, wo sich alle wieder einmal richtig satt essen konnten. Das selbstlose Darben der jüngsten Jahre sollte für Augenblicke vergessen sein, damit jedermann eine Vorstellung davon bekam, wie die glücklichsten Tage der Tierheit in nicht allzu ferner Zeit einmal aussehen würden.
Die Wölfe hatten einen rebellischen Auerochsen erlegt, der schon seit längerem als Querulant aufgefallen worden war. Jetzt garte er am Spieß und erfüllte die Luft mit Düften, die alle Wolfsherzen höher schlagen ließen. Den Kopf hatten die Jäger auf einen Pfahl gespießt und diesen, einem Maibaum gleich, in der Mitte der Lichtung aufgerichtet, während das zottige Fell an einer alten Eiche zum Trocknen ausgespannt worden war.
Ein edler Hirsch, ein prächtiger Sechzehnender, wie man ihn nur selten zu sehen bekam, war ebenfalls zu Fall gebracht worden – als Hinweis auf den Sturz der alten Ordnung, die das Königstier noch lebhaft verkörperte. Der Hirsch hatte den Wandel der Zeiten verkannt. Nicht ahnend, dass die Flammen der Revolution mit den Pergamenturkunden auch die einstigen Privilegien tilgten, hatte er es gewagt, althergebrachte, verbriefte Rechte einzufordern. Das kam offener Rebellion gleich und ließ ihn in Ungnade fallen. Vogelfrei war er zum Abschuss frei gegeben und mit großen Halali bald darauf erlegt worden.
Hirsche zur Strecke zu bringen, war legitim und legal. Stand die Hetzjagd doch im Einklang mit den Gepflogenheiten wölfischer Staatsraison, mit lange praktiziertem Gewohnheitsrecht und mit göttlich sanktioniertem Naturrecht. Wölfe jagten immer schon Hirsche … und Rehe und Schweine.
Teils sollte die Beute roh verspeist, teils im Kessel geschmort werden. Ferner bot der Speiseplan des Galadiners noch einige andere Wildbretköstlichkeiten an, Flugenten, Graugänse und ein paar träge Fasane, die alle unlängst bei konspirierendem Geschnatter überrascht worden waren. Auf ihren Flügel über das Meer hatten sie zu viel gesehen und frank und frei darüber geredet.
Die Augen der Wölfe leuchteten vor Gier und der Speichel tröpfelte beim Anblick der Speisen. Nur Faustinus, der mit grünstem Gras und duftendstem Heu aufgewachsen war, behagten die Gerüche nicht. Der Magen rebellierte bereits vor dem ersten Bissen. Frisches Blut roch noch ekliger als geschmortes Fleisch. Einst hatte es sich den Geruch von Menschenfleisch vorzustellen versucht, den die Teufel und Menschenfresser im Märchen in der Nase hatten, und den Duft  gerösteten Menschenfleischs auf den der Autodafés der Inquisition. Jetzt drang der Geruch geschmorter Artgenossen über die eigene Nase zum Gehirn.
So widerlich musste es in der Hölle stinken und auf den Schlachtfeldern, wo immer noch geschlachtet und geröstet wurde, kombinierte er. Faustinus fühlte, wie mit der Abneigung des pazifistischen Vegetariers, der Schlachthäuser und Schlachtfelder ablehnte, ein Ekelgefühl aufkam, dem gleich ein Brechreiz folgte. Während die Fleischfresser vergnügt schmausten und dann und wann Pokale mit roter Flüssigkeit herumreichten, sagte ihm sein Innerstes, wie unnatürlich all das Getue vor seinen Augen im Grunde doch war und dass dieser wild kannibalische Orgie zutiefst gegen den Geist der Tierheit verstieß. Doch nicht nur das rauschende Fest war verwerflich, sondern das gesamte wölfische Gesellschaftssystem dahinter, weil es zutiefst heuchlerisch war und weil seine Protagonisten fades Wasser für alle predigten, während sie selbst süßen Wein und salziges Blut tranken.
„Nimm doch etwas von dieser hypertrophen Leber. Sie schmeckt vorzüglich!“
neckte ihn ein genießerischer Wolf, nachdem er die fette Gans aufgebrochen hatte. Fleisch fressen, Blut saugen … das schuf Kräfte für neue Eroberungen. Das war auch der schwarze Humor der Wolfswelt. Nur foppen wollte er den Esel nicht mehr. Während der Wolf die Leber im tiefen Schlund versinken ließ wie andere die Auster, wandte sich das kreidebleich gewordene Faustinus schnell ab, eilte zu einem Busch am Waldrand und lies seiner Natur freien Lauf.
Es war zum Erbrechen! Und es war wohltuend, es zu tun. Wie verschieden einzelne Tiere doch fühlten?


War etwas verfehlt worden im Plan der Schöpfung?
Doch wie tief durfte ein Tier noch sinken, bevor es zur Bestie wurde? Faustinus haderte wieder mit der Welt und hatte große Mühe, seine Enttäuschung über die Mitgeschöpfe zu unterdrücken. Wo steuerte diese Gesellschaft hin, wenn solche Sitten toleriert und künftig gar ausgeweitet wurden? Es war nicht viel anders als bei den dekadenten Menschen, die sich selbst ihr Grab schaufelten, nachdem sie ihre Weisen in die Ecke verbannt und den Primitiven zur Macht verholfen hatten?
Scheiterten nicht auch Sodom und Rom an der eigenen Dekadenz?
Und machten sich die göttergleichen Menschen nicht einst auch gegenseitig das Leben schwer?
Brachten nicht auch sie sich immerwährend gegenseitig um, oft noch bestialischer als die Tiere?
„Sei nicht so zimperlich, Seelenschmerz und Skrupel müssen überwunden werden!“
tadelte ihn ein zweiter Isegrim, der wohl merkte, was in ihm vorging. „Früh übt sich, was ein tüchtiger Wolf werden will. Im Staat der Wölfe gelten eben die Sitten der Wölfe!“
höhnte er.
Noch bevor Faustinus recht darauf reagieren konnte, holte der scheinbar besser erzogene Krieger zu einem rhetorischen Exkurs aus, indem er vorausschauend postulierte:
„ Das Maß aller Dinge ist der Wolf. Der Seienden, wie sie sind. Und der Nichtseinenden, wie sie nicht sind. Je wölfischer sich jeder von uns verhält, desto perfekter wird die Gesellschaft in Zukunft ausfallen. Jeder Wolf genügt seiner Pflicht dann am besten, wenn er sich seines Wolfseins bewusst wird, danach lebt und handelt!“

Das war reinster Lupismus, wie er an der Parteihochschule in der Wolfsburg gelehrt wurde.
Dieser Wolf hatte die neue Lehre längst verinnerlicht. Als dann das Ständchen zur Ehre des Führergedenktags anstand, erhoben sich alle Wölfe wie auf einen Befehl und intonierten feierlich und im wirren Gejaule einen schrillen Lobgesang auf den Allmächtigen des Waldes, so laut und dissonant, wie er bisher noch nie vernommen worden war. Unter dem dicken Eselsfell regte sich eine richtige Gänsehaut. Wie Espenlaub zitternd stand Faustinus mittendrin, unfähig, sich zu regen. Zwar bewegte er leicht die Lippen und stammelte von Zeit zu Zeit ein müdes „I – Aaa“; doch in der Tiefe seines Herzens trauerte er.
Was war das für eine Welt?
Gab es denn nur noch Ja-und-Amen-Sager?
Dann kam die Aufforderung zum Tanz!
Nicht jene von Carl Maria von Weber, sondern eine weitaus profanere, die zum Reigen einlud, zu einem Ringeltanz, den schon viele Völker seit Jahrtausenden tanzten, rund um das weite Mittelmeer und anderswo - alle heiter vereint, Männlein und Weiblein. Nur Faustinus fühlte sich nicht berufen dazu, obwohl er sonst gerne tanzte.
Schließlich war dies kein ehrwürdiges „Eselsfest“, wo ein heiliger Esel im Mittelpunkt stand!
Ganz im Gegenteil. Dies war ein Fest der Raubtiere!
Und schließlich war er auch nur ein Esel und kein dressierter Tanzbär, der aus Furcht vor drohender Pein und Bestrafung auf Kommando lostanzte!
Pawlows Welt war das – eine Welt von Gier und Angst! Wie hätte ein richtiger Esel wie er, von der Natur mit einem freien Willen ausgestattet und einem scharfen Eselverstand, der zwischen Gut und Böse, zwischen Freiheit und Willkür, sehr wohl differenzieren konnte, bei der Maskerade ohne Masken mitmachen sollen, ohne sich selbst in Frage zu stellen?
Faustinus war wie die meisten Esel Sylvaniens im Takt des Kontratanzes aufgewachsen. Auch den Walzer tanzte er gern, Polka und Foxtrott - manchmal leicht verschämt auch Tango im Dämmerlicht. Dann träumte er mit Heine von einem erotischen Pas des deux auf einsamer Lichtung bei Mondschein mit einer jungfräulichen Eselsstute, mit Faustina, im leidenschaftlichen Taumel, doch sittsam und keusch.
Aber was war das hier – dionysische Entrückung und Verzückung? Schlimmeres noch als jedes enthemmte Eselsfest der Antike oder des Mittelalters?
„Carne vale! Carnevale“?
So seufzte Faustinus still in sich hinein und wollte sich gerade vom dem Tumult zurückziehen, als zwei stattliche Jungwölfe aus dem Reigen sprangen und sich auf ihn stürzten. Der eine packte ihn fest an der Mähne, der andere zwickte ihm genüsslich in den Allerwertesten:
 „Komm, Eselchen, komm tanz mit uns!“
höhnten die inzwischen vom Blut berauschten Halbstarken jovial.
„Lass uns gemeinsam eine neue Zukunft aufbauen, den lichtvollen Staat der Wölfe!“
Im Rausch lag viel Wahrheit. Der eine oder andere Wolf liebte offensichtlich den klaren Ausdruck. Und wer genau hinhörte, konnte erahnen, was noch kommen sollte. Erschrocken zuckte Faustinus zurück. Das klang nach Unheil. Eigentlich wollte er keinen wölfischen Staat aufbauen, kein neues Utopia. Und er wollte auch nicht in einem Wolfsstaat leben, der nicht mehr für die Schwachen da war, um sie zu schützen, sondern der nur den Mächtigen diente.
Was sollte er in einem Staat, wo Leviathan bestimmte und bald noch ganz andere Ungeheuer?
Wo jedes Tier des anderen Tieres Feind war?
Und jeder Wolf  dem anderen Wolf ein Wolf?
Welch merkwürdige Philosophie? Durchtriebene Sophisten der Frühzeit, Machiavelli und Hobbes hatten solch gefährliches Denken in die Welt gesetzt und die Gehirne der Wölfe vergiftet, lange  vor dem Harmonisten Wolf.
Dann kam auch noch Nietzsche und gab seinen Senf dazu. Und nun half keine noch so harmonistische Lehre, die Frucht der üblen Saat auszumerzen. Die Schlangensuppe brodelte und wurde mit Genuss verzehrt. Wie konfus die Dinge doch eingerichtet waren in der besten aller Welten!?
Während die Wölfe mit Gejaule ihren Reigen tanzten und einige Wildschweine, die mittanzten, um nicht auch noch aufgefressen zu werden, aufschrien, wenn übermütige Jungwölfe sie mit den scharfen Zähnen neckten, zog sich Faustinus diskret in sein Selbst zurück und tanzte allein vor sich hin, träumend und in Gedanken versunken.
Diese wölfische Wirklichkeit war etwas, was nur verdrängt werden konnte und aus Gründen der Selbsterhaltung verdrängt werden musste – oder es galt, die Welt zu verändern, in der man lebte.
Eine Entscheidung stand jetzt an. Was sollte nun aus ihm werden?
Ein Meister der Verdrängung, der die Wahrheit schon umschmiedete, noch bevor sie richtig geboren war; der sie umdeutete und wechselte, schneller als die scheuen Chamäleons ihre Farbe?
Oder ein Meister der Veränderung, ein Handelnder, der zur Tat schreitet wie der entschlossene Schwertkämpfer, wenn er gebraucht wird?
Sollte aus ihm ein Rachengel werden mit reinigendem Flammenschwert? Ein Siegfried?
War er zum Drachentöter geboren?
Zum Tyrannenmörder gar?
Die Welt war doch anders als in den Büchern. So gnadenlos hatte er sich die Bildungsreise nicht vorgestellt! Schlimme Zweifel überkamen ihn nunmehr, existenzielle Zweifel, die drohten, sein so kurzes Leben vergiften zu wollen. Doch noch bevor es ihm so ging wie jenem verhöhnten Vorfahr, der sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden konnte, und zweifelnd verhungerte, kam der alte Lebensmut zurück und neue Zuversicht.



Copyright: Carl Gibson

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