Écrasez l’ infâme
Ein Rendezvous mit dem zwangsexilierten Dissidenten
Paul Goma
Jeder Emigrant ist ein Odysseus auf dem
Weg nach Ithaka. Jede wirkliche Existenz zieht eine „Odyssee“ nach. Mircea Eliade,
Im Mittelpunkt
Am
nächsten Tag traf ich Paul Goma, den wichtigsten der rumänischen Dissidenten,
zweifellos aber den bekanntesten. Er wirkte primär durch seine Haltung und als
Träger einer Idee; erst in zweiter Linie wurde er als politischer
Schriftsteller und Romancier registriert. Das machte ihm Kummer. Doch er lebte
damit. Wir hatten uns in einem Straßencafé verabredet. Schon saß ich da, als er
kam. Ein mittelgroßer, stämmiger Mann mit weißem Rundbart, einer wuchtigen
Brille mit starken Gläsern und dunklem Rahmen, auf dem Haupt eine graue
Lotsenmütze. Er steckte in einer hellbraunen Kaschmirjacke mit Kapuze, am Hals
ein karierter Wollschal. Es war kalt und windig. Wir begrüßten uns und
bestellten Tee. Er studierte mich - und ich ihn. Wir kannten uns schon lange,
waren uns aber noch nie begegnet.
„Ich
habe dir eines meiner Bücher mitgebracht - und dir eine Widmung hineingeschrieben,
als kleine Wertschätzung deines Engagements!“ sagte er ruhig. Interessiert nahm
ich es entgegen und bedankte mich.
„Gherla?“ konstatierte ich anerkennend.
„Ja,
Gherla, ein unseliger Ort in Siebenbürgen, ein Unort wie Aiud und Jilava“ sagte
Goma und fügte hinzu: „Dieses Buch ist mir noch das liebste von allen, die ich
geschrieben habe!“
Vor
einiger Zeit hatte ich in Ostinato
geblättert, in der deutschen Fassung, ohne systematisch zu lesen und ohne in
größere Begeisterung zu verfallen. Später auch in anderen Werken. Vieles davon
war schwere Kost und Geschmacksache. Gemessen an den Literaten der
Weltliteratur, die ich viel häufiger las als moderne Autoren, hatten
Gegenwartsschriftsteller einen schweren Stand. Bei Goma hing darüber hinaus
noch viel vom Talent seiner Übersetzer ab, die vieles von den Subtilitäten der
rumänischen Sprache und der in ihr mitschwingenden Atmosphäre kaum ins
Französische oder ins Deutsche herüberretten konnten. Auch befreundete
Schriftsteller konnte man nicht immer gut finden. Wie bei anderen schreibenden
Freunden auch, setzte ich mehr auf die ideelle Relevanz der Aussage als auf den
Individualstil, gerade bei politischen Büchern. Solschenizyn, mit dem Goma gelegentlich
verglichen wurde, schrieb systematischer, archaischer und sprachlich
differenzierter. Jelena Bonner, die Gattin des Dissidenten Sacharow, schrieb
später während ihres kurzen Aufenthalts im Westen, quasi zwischen Tür und
Angel, die Dokumentation In Einsamkeit
vereint über ihren Alltag an der Seite Sacharows am Verbannungsort Gorki auf
eine nahezu unliterarische Art. Goma stand stilistisch irgendwo dazwischen. Sein
naturalistischer Stil wirkte manchmal direkt, derb und provozierend, nicht
immer fein, aber redlich.
Doch
ich wollte hier nicht über Literatur reden, noch über Fragen der Wertung oder
Ästhetik, sondern ausschließlich über menschenrechtliche Fragen. Schließlich
war er primär ein politischer Schriftsteller, ein Zola unseres Jahrhunderts,
einer der frei und unverblümt redete, der klagte, anklagte, der polemisierte
und polarisierte - bis zum heutigen Tag!
„Wie
lebt es sich so in Paris?“ fragte ich zunächst mehr rhetorisch mit leichter
Ironie, nebenbei am heißen Tee nippend.
„Bis
auf die Bomben, die selbst in Friedenszeiten über uns herunter krachen, ganz
anständig. Hier in Frankreich darf ich mich artikulieren und mit jedermann
reden - soviel ich will, ohne belauscht zu werden. Politische Meinungen hat
hier jeder. Die gesellschaftliche Kultur ist einfach anders - und der
Zivilisationsgrad der Bevölkerung. Keiner hindert mich daran zu schreiben, was
ich will. Und ich kann alles drucken lassen, was ich verfasst habe. Selbst die
Publikumsverlage machen mit, vielleicht auch aus Solidarität mit den Menschen
in Rumänien und Osteuropa - oder weil es eine Sache des politischen Anstands
ist, bestimmte Themen zu drucken, auch wenn sie sich nicht groß verkaufen. Der Homme des lettres steht hier in
Frankreich immer noch hoch im Kurs - und auch der kritische Essay, bis hin zum
provozierenden Pamphlet. Kurz, ich kann als Schriftsteller veröffentlichen,
soviel ich will. Und hier kennt man auch keine Zensur! Der Franzose unserer
Tage weiß kaum noch, was das Wort bedeutet. Deshalb erinnere ich in meinen Lesungen
auch daran und verweise darauf, wie es hinter dem Eisernen Vorhang zugeht, speziell
im autoritären Rumänien, an die Maulkörbe dort und das generelle Leben in
Unfreiheit. Doch gerade deshalb lebe ich hochgradig exponiert, ohne am Morgen
zu wissen, ob ich den Abend noch erlebe, ohne sicher sein zu können, dass es
überhaupt ein Morgen geben wird! Sie wollen mich immer noch ausgrenzen und
fertig machen. Auch hier an der Seine. Es gefällt ihnen einfach nicht, wenn ich
über Radio Freies Europa mit den
Menschen im Land kommuniziere und den Eingesperrten von Wahrheiten berichte und
von Freiheiten, die es in Rumänien noch lange nicht geben wird, wenn die
gegenwärtigen Verhältnisse anhalten!
So
oder so! Der lange Arm der Revolution,
du weißt ja, was damit gemeint ist, greift nach mir … Sie haben mich in New
York bedroht und in Kanada, ganz so nebenbei in Montreal, in der U-Bahn … Und
sie sind auch hier, mitten unter uns. Sie bewegen sich frei im freien Westen …
wie die Fische im Wasser - und keiner kann ihr destruktives Vorgehen aufhalten.
Ich glaube, sie werden auch in Zukunft nicht aufhören, uns zu diskreditieren,
zu diffamieren! Mit allen Mitteln! Sie bestechen Journalisten, sie kaufen Verleger,
sie lassen Bücher drucken … Geld spielt keine Rolle, wenn es darum geht, ihre
Lügen aufrechtzuhalten. Dahinter stecken auch ökonomische Interessen. Und mit
der blanken Fassade erhalten sie sich selbst. Der Schein des Scheins ist für
Uneingeweihte noch schwerer zu durchschauen.“
Goma
wirkte ernst, besorgt und schon leicht verbittert. Nicht jeder sah die Dinge so
klar. Vieles war selbst erlebt und existentiell fundiert. Auch die Enttäuschung
über die allgemeine Ohnmacht. Sein Zynismus konnte nicht alles auffangen. Irgendwo
stand er allein und kämpfte gegen alle. Das Gefühl war mir nicht ganz fremd.
Doch gemessen an seiner radikalen Kompromisslosigkeit, war ich eine konziliante
Natur.
Als
er vor zwei Jahren öffentlich aufmuckte, gab es weder Intellektuelle noch bekannte
Schriftstellerkollegen, die ihm gefolgt wären. Persönliche Animositäten, Neid,
aber auch Angst und Opportunismus hielten viele ab, sich etwas weiter aus dem
Fenster zu lehnen, Position zu beziehen und eindeutig Flagge zu zeigen. Weshalb
sollten sich erstrangige Namen mit einem zweit-, ja drittklassigen Schriftsteller
einlassen, nur weil er moralisch im Recht
war? Sie würdigten ihn vielmehr herab, sie stigmatisierten und schnitten
ihn - zu Unrecht! Denn nur er erhob seine Stimme, als die selbst erkorene Elite
versagte.
Der Schriftsteller in Rumänien zur Zeit
der Ceauşescu-Diktatur: Das war fast immer der feige Schriftsteller - und das
galt auch für Deutsche und Ungarn. Zivilcourage, geistiges Vorreitertum? Weit
gefehlt! Duckmäuserisches Mitläufertum war ein Kennzeichen der Intellektuellen
im Sozialismus - ostblockweit!
Goma
hatte auch nach seiner Zwangsexilierung von Frankreich aus weitergemacht und
aufgeklärt, unterstützt nur von Ionesco. Er hatte sich auch für die Sache der Freien Gewerkschaft SLOMR engagiert,
nachdem diese unterdrückt worden war und, noch bevor ich im Westen eingetroffen
war, als provisorischer Sprecher von
Paris aus weiter öffentlich für die Bewegung geworben.
Wie
es schien, hatte er noch nichts von seiner kommunismuskritischen Haltung eingebüßt.
Doch ich merkte, dass er hart am Wind segelte - und dass er es nicht einfach
hatte. Wer sich mit einem allmächtigen Gegner herumschlägt, wer sich mit einem
totalitären Staat anlegt, mit einem repressiven System, das über einen effizienten
Geheimdienst selbst im Ausland agiert, wird von vielen Seiten angefeindet. Das
ertragen nur ganz wenige.
Neben
den tatsächlichen Feinden gibt es noch Rivalen, Neider, die kreative Energie
abziehen und den Aufklärer schwächen. Hinzu kommen noch die Herausforderungen
des Alltags, die oft vergessen werden. Bücher schreibt man nicht über Nacht. Sondern
sie entstehen oft unter extremem Verzicht in einer Schwerstarbeit von Jahren,
wobei das Erlittene vielfach wieder und wieder erlitten werden muss. Ein
Schriftsteller im Exil hat nicht selten Schwierigkeiten, im teuren Paris oder
sonst wo seine Miete zu bezahlen, obwohl seine Bücher veröffentlicht werden. Was
hat er von seiner Arbeit? Zehn Prozent? Ein Hungerlohn in teurer Zeit! Aber
selbst die Botschaft wird nicht immer verstanden. Das Abgeschnittensein von den
Wurzeln und vom vertrauten Umfeld daheim in Bukarest, wo man viel direkter
reden konnte, so richtig gerade heraus auf Rumänisch, wo man einen, nahe am
Knastjargon, schnell einmal irgendwohin
schicken konnte, zurück zum Ursprung, das fehlte Goma in fremden Paris und
in der kultivierten Umgebung der aktiven Exilanten. Paul Gomas Ton wurde
zunehmend sarkastischer: „Ich bin ein Schriftsteller, der aus seinem Vaterland
vertrieben wurde, nur weil die Mächtigen nicht hören wollten, was ich zum
gesellschaftlichen Miteinander zu sagen hatte, zu den Spielregeln einer
zivilisierten Demokratie. Nie habe ich allzu viel gefordert! Nur an einem
Prinzip sollten sie festhalten: Wenn ihr
Gesetze macht, dann haltet euch daran, respektiert sie auch und setzt sie um,
vor allem das, was an internationalen Vereinbarungen ratifiziert wurde - soviel,
mehr nicht! Und mit welchem Resultat? Noch bin ich am Leben und sitze hier
in Paris - in der Einsamkeit des Exils - wie ein Fisch auf dem Trockenen!“
Goma
wirkte verärgert. In meinem längeren Interview mit Max Bănuş hatte selbst ich die
Respektierung der rumänischen Verfassung angemahnt und diese Constituţie sogar noch in ein
positiveres Licht gerückt, als es ihr eigentlich als undemokratischer Verfassung zustand. Doch die Respektierung der schon
bestehenden Gesetze, ein Aspekt, den die Charta
77-Anhäger um Kohout und Vaclav Havel für die Tschechoslowakei angestrebt
hatten, war nur ein Anfang, ein erster Schritt. Das Ziel war die Umwandlung der autoritären, ja totalitären
Gesellschaft in eine demokratische. Darauf hoffte Goma von Paris aus und
machte, unterstützt nur von Eugen Ionesco, unverzagt weiter. Trotzdem war eine
gewisse Resignation nicht zu verkennen. Skepsis kam auf, selbst bei mir: „Auf
was können wir noch hoffen? Dürfen wir die Ideale aufgeben - und mit ihnen das
Handeln?“ fragte ich leicht provokativ nach, ohne die Aussichtslosigkeit
unseres Tuns verstärken zu wollen.
„Nun“,
holte der Bärtige, denn das war sein
Spitzname bei der Securitate, zögerlich aus „ich kann nur für mich sprechen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich weiter agieren, weiter schreiben und
meiner Linie treu bleiben … Auch auf die Gefahr hin, das ich scheitern werde.
Dass sie mich von einer Sekunde zur anderen auslöschen können, daran habe ich
mich gewöhnt. Schon seit geraumer Zeit lebe ich mit Briefbomben und mit den
profanen Schwierigkeiten, die jeder andere Schriftsteller in der Fremde auch
hat. Er will etwas mitteilen; doch die meisten Zeitgenossen interessiert seine
Botschaft überhaupt nicht … Manchmal komme ich mir vor wie einer, der überhaupt
noch nichts publiziert hat … Von mir liegt mehr in der Schublade als im
Bücherregal steht. Wie du vielleicht weißt, schreibe ich nach wie vor in
Rumänisch. Das macht weitere Schwierigkeiten. Die Sachen müssen erst in mühsamer
Arbeit adäquat übersetzt werden, bevor die Menschen hier in Frankreich oder im
Westen etwas von den Wirklichkeiten sozialistischer Lebenswelten erfahren. Und
was noch schlimmer ist: In Rumänien, dort, wo ich tatsächlich wirken will und
wo ich eigentlich gehört werden sollte, gerade dort bleiben meine Werke vorerst
tabu, vielleicht für alle Zeiten … Bis auf die wenigen Sachen, die Radio Freies
Europa gesendet hat und noch sendet, kennt man nichts von mir in meiner Heimat!
Doch war es je anders? Der große Ovid ließ, als er vor zweitausend Jahren nach
Tomis in die Verbannung musste, immerhin
ein Oeuvre zurück, die Metamorphosen, die Kunst des Liebens - und er schickte
seine Briefe vom Pontus heim nach Rom und seine tristen Elegien! Doch was ließ
ich zurück? Nichts! Belele! Ärger!
Das ist Dichter-Los, Dissidenten-Los und namenlos: Mein Los! Hier lebe ich inmitten einer amorphen Masse, anonym und
zurückgezogen, isoliert wie auf einer Klippe, die ins Meer ragt, nicht weniger
einsam als Ovid unter den Geten am Schwarzen Meer! Aber, darf ich klagen? Selbst
die Götter kannten das Exil!“
„Und
was ist mit dem kulturellen Widerstand im Land, mit der literarischen Opposition?“
hakte ich nach.
Goma
blickte mich verdutzt, ja fast beleidigt an: „Widerstand? Welch ein Hohn!
Selbst wenn Diogenes nach ihm suchte mit seiner Leuchte oder am hellsten Tag
mit einer Lupe bewaffnet - er würde ihn nicht finden. Wir durchleben sonderbare
Phänomene in Rumänien, Erscheinungen, die noch nicht genau definiert wurden.
Wie soll ich die Dinge nennen? Defaitismus? Persönliche Feigheit? Politischer
Autismus? Viele kluge Köpfe, die das offizielle Programm nicht mitmachen wollen,
verkriechen sich in ihren Kammern und schweigen! Innere Emigration nennt man
das auch heute! Fast alle Schriftsteller sind Feiglinge und schnöde Opportunisten!
Ihre Tschorba reicht ihnen wie bei Stendal die Kartoffelsuppe … Und ihre fade Mămăliga,
die nie explodieren wird! Sie wollen weiter mit der Feder hantieren, statt mit
der Spitzhacke und Schaufel im Steinbruch! Steineklopfen behagt den feinen
Leiten nicht! Also verkriechen sie sich - kuschen und schweigen! Geistige
Autoritäten, dass ich nicht lache! Sie, die hehren Geister und Hüter der Moral,
tolerieren jede Perfidie und segnen jede Schandtat ab wie Popen! Und damit folgen
sie - gewollt oder ungewollt - dem Plan der Kommunisten und sanktionieren auch
den Status quo in der Politik auf ihre Weise … Was soll ich tun? Gerade hier
und jetzt - und allein?
Soll
ich mich mit jedem anlegen, der nichts tut, der schweigt? Kann ich sie alle zur
Raison rufen, die Leute aus dem Schriftstellerverband, an ihre Ehre appellieren
- oder an ihr möglicherweise noch vorhandenes Gewissen? Wer hört mir zu? Du vielleicht,
Ionesco, die Idealisten von der Liga und ein kleines Häufchen Unverbesserlicher
vielleicht? Und ein paar stille Fans! Ja, wir haben Fans! Doch die stille Bewunderung
unserer Verrücktheit nutzt keinem, an wenigsten der Gesellschaft, die es zu
verändern gilt! Wahrscheinlich bleiben wir hier im Exil nur einsame Rufer in
der Wüste! Propheten, denen keiner lauschen will … Das nemo propheta in patria gilt immer noch. Vielleicht werden wir hier
am lauten Puls der Welt endgültig vereinsamen … Oder vom Lärm um nichts
erschlagen werden. Ionesco ist schon auf dem besten Weg in die Selbstisolation,
auch der scheue Cioran, der keine Lust mehr hat. Den Goncourt-Preis verschmähte
er, um ein Signal zu setzen gegen die omnipotente Scheinheiligkeit! Nur wer
rezipiert heute solche Gesten? Wen schert noch Philosophie, nach Sartre, nach
Camus? Bestimmt werden auch wir einsam untergehen, ohne dass auch nur etwas von
unserer Botschaft gehört wird … Was soll’s? C’
est la vie, sagte der Franzose immer schon, fast genauso fatalistisch wie
sein Bruder, der Rumäne, der wirklich alles erträgt … Maisfladen explodieren
nicht, sagen einige mit Recht! So sind die Rumänen nun einmal - fatalistisch,
duldsam, nicht viel rebellischer als die viel verachteten Nomaden aus Hinterindien.
Die Geschichte hat sie leidensfähig gemacht! Du kennst den Knast und weißt, was
er aus freien Menschen macht, Krüppel und Geisteskrüppel! Wer lange Turtoi
essen musste und Arpakasch bis zum Überdruss wird nicht nur friedfertig,
sondern auch fatalistisch passiv, ja nihilistisch und depressiv, bereit alles
zu ertragen, auch ein Leben ohne Würde.
Irgendwann bestimmen nur noch Ekel und Melancholie, Sisyphus und Don Quichotte!
Wie soll ich darauf reagieren? Mit Erbrechen vielleicht?
Die
Heuchelei stinkt zum Himmel, überall - und keiner rümpft die Nase! Meine Arbeit
ist fast getan! Darf ich schon Bilanz ziehen? Je ne regret rien, pflichte ich Edith Piaf bei. Das war mein Weg,
mein Tao und vielleicht auch meine Bestimmung - und ich bereue nichts, I did it my way.“
Gomas
Jammern wirkte müde und enttäuscht. Die Desillusion hatte ihn verbittert. Nur
wenige Freunde wussten davon, dass er einst auch der Musik nahe stand, nicht
nur dem Chanson, sondern der ernsthaften Musik, während andere, fern von Bach,
nur die Kunst der Fuga beherrschten -
ganz nach einem geflügelten Wort der Rumänen in Reimform: Fuga-i ruşinoasă, dar
sănătosă! Die Fuga - also die Flucht - ist
schändlich, doch heilsam! Also erst das Leben retten, überleben - und dann
nach der Moral Ausschau halten.
In
den Nachwirren der Ungarnrevolution, als andere davonliefen, um ihre Haut zu
retten, Goma aber als Student opponierte und wie Freund Felix in Temeschburg in
den Knast ging, übte er nach der Entlassung gleich mehrere Berufe aus - auch
als Musiker. Vielleicht blies er damals die große Tuba und schlug die Pauke? Genau
weiß ich es nicht mehr. Aber er hatte auch einen Sinn für Bolero, Tango und
triste Walzer an traurigen Sonntagen - und er war ein Stehaufmännchen nach meinem
Geschmack, das sich täglich neu motivieren und neu entwerfen konnte.
Aufgeben
war Gomas Sache nicht: „Im Land muss sich bald etwas tun, sonst werden sie den
Diktator nie los! Eure Gewerkschaft war schon ein großer Schritt in die
richtige Richtung und eine Erhöhung dessen, was ich damals begonnen habe. Doch
es muss noch mehr werden. Die Vielen müssen aufspringen! Und der Kopf der Hydra
muss weg - der unsterbliche Kopf. Das klingt paradox - aber der Fisch stinkt vom Kopf her, besagt
eine Volksweisheit, die man selbst in Afrika kennt. Bei uns im Land ignoriert
man sie immer noch, obwohl jeder inzwischen merkt, wie kräftig es schon muffelt
in der Baracke! In Polen rotieren inzwischen die Regierungschefs - bei uns in Bukarest
hingegen rotieren nur die Vasallen unterhalb
des Diktators … Ach, hören wir auf damit, all das regt mich viel zu sehr auf!“
Gomas
cholerischer Charakter trieb ihm das Blut in die Schläfen. Auch mir war diese
Art des Ärgerns vertraut, ein innerer Aufruhr, der auch mich nachts ergriff,
wenn ich über die allgemeine Heuchelei nachdachte, vor allem aber über Personen,
die sie mit ihrem bigotten Handeln erst ermöglichten. Manches konnte ich gut
nachvollziehen, denn ich entstammte Verhältnissen, in welchen die kleinbürgerliche
Heuchelei bis zum Exzess kultiviert wurde, so sehr, dass sie selbst in meinem
persönlichen Umfeld in nächster Nähe Opfer forderte. Und dabei war die Scheinheiligkeit
die Wurzel aller Übel!
Eine
ganze Reihe französischer Geister hatten ihr den Kampf angesagt und sie
vehement bekriegt wie die vielköpfige Hydra, von Villon bis zu Voltaire und Cioran.
Hatte nicht noch Nietzsche mit ausgerufen: Écrasez
l’ infâme
Doch
die Hydra der Heuchelei hatte wohl neun Köpfe - und der letzte, der Unsterbliche,
von Herakles am Wegrand verscharrt, schien wieder munter zu sprießen.
In
Rumänien, in einem europäischen Land, das auf seine zweitausendjährigen Wurzeln
stolz ist und das sich von den Römern herleitet, trieben noch im Jahr 1980 und
darüber hinaus die kulturellen Paladine des Diktators ihr Unwesen; Panegyriker
der Superlative wie Adrian Păunescu, der einen Ceauşescu-Kult inszenierte, dass
selbst die Koreaner vor Neid erblassten. Die anständigen Intellektuellen kuschten, schauten zu und applaudierten
Beifall, während Goma als Vaterlandsverkäufer
und Schurke diffamiert wurde. Nach
einer guten Stunde verließen wir das Café und spazierten noch eine Weile durch
einen nahen Park.
Die
Rosen blühten nicht mehr. Dafür zeigten sie ihre Dornen. So nebenbei berichtete
ich ihm von meinem Hineinschlittern in die Dissidenz, von meiner Verhaftung vor
seiner Wohnung und von dem Versuch der Securitate, falsche Angaben aus mir herauszupressen,
die ihn möglicherweise hätten belasten können. Das alles überraschte ihn nicht.
Das hatte Methode und gehörte zu den Geschäftspraktiken der Securitate. Auch
hier rechnete er jederzeit mit dem Schlimmsten. Dann sprach ich von den
antisemitischen Tiraden gegen ihn. Für die Securitate war er ein Fremdling aus
Bessarabien, der eine Jüdin zur Frau hatte, also ein Philosemit, während ich
ein liberalkonservativer Deutscher war. Auch das wunderte ihn nicht. Vielfach
hatte er die stalinistischen Verhörmethoden erlebt, die sich durch nichts von
einem Gestapo-Verhör unterschieden. Und Goma kannte das Wasserpredigen und das
Weintrinken der Kommunisten in- und auswendig. Wir ergingen uns dann auch noch
in Klatsch und Tratsch und redeten nicht mehr ganz so ernst über Trivialitäten
an Rande, über die Zerstrittenheit der Rumänen im Exil, über die Unart jedes
kleinen Opponenten, den Marschallstab führen zu wollen, über antiquierte
Strömungen, über die ewig Gestrigen, über individuelle Eitelkeiten einzelner Leader
sowie über die Kunst, sich selbst im Wege zu stehen und gute Sachen zu verhindern,
statt sie zu fördern.
Goma
war ein feuriger Kopf, ein streitbarer Geist; ein Schriftsteller, der mehr geachtet
als geliebt wurde - und er hatte manche Neider und Feinde, selbst im Exil. Wo
Menschen sind, ist viel Allzumenschliches.
Kurz
vor der Verabschiedung skizzierte ich ihm noch meine künftigen Pläne und den
angestrebten Weg in die internationale Politik. Auch sprach ich über ein mögliches
Projekt, die freie Gewerkschaftsbewegung
historisch-literarisch dokumentieren zu wollen, ohne zu ahnen, dass dies noch
fünfundzwanzig Jahre reifen sollte und verwies auf die Bestrebung, noch eine
Weile auf dem engen Pfad, der früher mit Tugenden verknüpft wurde, weiterschreiten
zu wollen. Dann schieden wir wie zwei alte Kombattanten in der Hoffnung, uns in
besseren Tagen wiederzusehen. Was wurde aus Paul Goma?
Er
lebt auch heute noch in Paris und fährt fort, auf seine Weise den Kommunismus
in Rumänien zu bekämpfen, allerdings in einer wesentlich radikalisierten Form.
Den Aufruf zur Rückkehr in seine Heimat, den der Altstalinist und Wendelhals
der ersten Stunde Ion Iliescu nach langen Jahren der Bedenkzeit endlich
formulierte, ignorierte Goma - aus vielen Gründen. Und selbst in jüngster Zeit,
als er von Koordinator Vladimir Tismăneanu in die Kommission zur Analyse und
Aufarbeitung des Kommunismus in Rumänien berufen werden sollte, verscherzte ihm
seine lose Zunge Teilnahme und Mitwirkung.
Nur
in meiner Geburtsstadt, wo man es seit der Proklamation
von Temeschburg mit der Aufarbeitung des Kommunismus und dem Aufbau
demokratischer Strukturen ernst nahm, wurde seinen Verdiensten eine Ehrung
zuteil, indem im Bürgermeister Ciuhandu die Ehrenbürgerschaft der Stadt anbot -
eine Geste, die Goma gerne annahm, die aber einen Sturm der Proteste
hervorrief, weil Goma sich inzwischen aufs Glatteis begeben hatte. Goma, oft
zum Juden gestempelt, war - bis zu einem hohen Grad selbstverschuldet - in eine
Antisemitismusdiskussion hineingeraten, die bis zum heutigen Tag anhält und die
viel von seinem Renommee als Dissident geschmälert hat.
Copyright: Carl Gibson
Werke von Carl Gibson:
Zur Geschichte des Kommunismus,
zu Totalitarismus
und Menschenrechte:
Zur Geschichte des Kommunismus,
zu Totalitarismus
und Menschenrechte:
Soeben erschienen:
Carl Gibson:
Plagiat als Methode - Herta Müllers „konkreative“ Carl Gibson-Rezeption
Wo beginnt das literarische Plagiat?
Zur Instrumentalisierung des Dissidenten-Testimoniums „Symphonie der Freiheit“ –
Selbst-Apologie mit kritischen Argumenten, Daten und Fakten zur Kommunismus-Aufarbeitung
sowie mit
kommentierten Securitate-Dokumenten zum politischen Widerstand in Rumänien während der Ceaușescu-Diktatur.
Rezeption - Inspiration - Plagiat!?
Herausgegeben vom Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim.
Seit dem 18. Juli auf dem Buchmarkt.
399 Seiten.
Publikationen des
Instituts zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa,
Bad Mergentheim
Carl Gibson, „Ohne Haftbefehl gehe ich nicht mit“ - Herta Müllers erlogenes Securitate-Folter-Martyrium“, Bad Mergentheim 2014. Herausgegeben vom Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim.
Liegt seit März 2014 vor .
Copyright: Carl Gibson