Montag, 5. September 2011

Der Rabe



So zog sich die Wanderschaft, die eigentlich eine Flucht war, dahin. Stagnation und Stillstand hatte der Esel hinter sich gelassen und hoffentlich auch die blutrünstigen Wölfe, deren Herrschaft er für immer zu entfliehen trachtete.
„Wenn ich auch nicht glücklich werden sollte in der absoluten Freiheit der Fremde, dann will ich mich mit dem Wert an sich begnügen“,
tröstete sich Faustinus wohl ahnend, dass Unfreiheit nie Glück bedeuten würde.

Der Geist muss frei sein, um sich entfalten zu können.
Und die Seele muss frei sein für die Liebe!
Er trottete über enge Höhenwege, streifte machen Berggipfel, zog durch finstere Schluchten, erlebte rauschende Wasserfälle und Sturzbäche, oft im Schutz immergrüner Tannenwälder, die tagsüber, wenn die göttliche Sonne schien und muntere Vöglein zwitscherten, etwas von ihrer Bedrohlichkeit einbüßten.
„War nicht das ganze Leben ein Irrgang durch ein dunkles Labyrinth, eine Bahn, die ins Nichts mündete, ein freiwilliger Weg zu Schafott, wo nur die Art des Scheiterns zur Debatte stand, wo die Freiheit nur noch da war, um das Ende als selbst bestimmtes Finale zu ermöglichen?
Und das Erdenglück eine Chimäre?“
 So grübelte das peripathetische Eselchen auf dem Abstieg in das Tal. In der Ferne spiegelte sich die Sonne in silbernem Wasser. War das der Strom? Der große Strom, der Weg allen Lebens über den Ozean in die Ewigkeit?
Leichte Wehmut kam auf und eine Sehnsucht nach dem Aufgehen in der Unendlichkeit, ein Hauch von Mystik und Melancholie.
Jugend und Ewigkeit? Ewig jung wäre Faustinus gerne geblieben … und ewig glücklich!
Oder waren das zwei Kategorien, die nicht recht zusammen passen wollten?
Das pralle Leben wartete, vielfacher Genuss im Seelisch- Geistigen, die große Freiheit der Selbstentfaltung in der Kunst, nicht die „Unio mystica“, die große Wesensschau und Versenkung im Nichts.

„Krah“
erschallte es irgendwann aus hohen Lüften.
Das Eselchen erhob seinen schweren Schädel und blickte hinauf zum blauen Himmel hin, ohne etwas zu erkennen außer den üppig grünen Baumkronen.
„Krah, krah!“
hörte Faustinus es nun noch deutlicher aus dem Blätterwerk krächzen. Dort oben im Geäst einer knorrigen Eiche, die wohl schon vielen hundert Jahre in die Zeit ragte, saß ein schwarzer Rabe, und stierte unbestimmt in eine Welt, die mehr langweilte als sie interessierte. Der Totenvogel hatte schon manches gesehen in all der Zeit. Er hockte schon da oben im Geäst, als Napoleon ins heiße Ägypten aufbrach und dann nach Moskau in den kalten Schnee. Er sah dabei zu, als der große Kaiser die Landkarte des alten Kontinents veränderte, als ein Cäsar Staaten tilgte, um neue Staaten zu schaffen, Gebilde, die heute noch bestehen – und er saß immer noch da oben an der gleichen Stelle, als andere Feldherren kamen, rücksichtlosere, weniger begabte und tierischere als jede Bestie.


Manche Leiche hatte er über die Vergänglichkeit aller Dinge reflektierend mit seinem scharfen Schnabel zerhackt. Für ihn hatte die Zeit, die vielen davonlief, keinerlei Bedeutung mehr, da er selbst schon Teil der Ewigkeit war.
Und auch der Raum, der manches begrenzte und viele Freiheiten aufhob, beeindruckte ihn nicht. Bis zur Sonne hin konnte dieser Rabe fliegen, wenn es ihm denn danach war – ohne abzustürzen wie einst Ikarus beim Sonnenflug.
Nun aber kam ein junges Eselsfohlen daher und blickte neugierig frech zu ihm hinauf:
„Ist das der Weg zum Fluss, großer Kondor?“
erkundigte sich Faustinus etwas schüchtern. Der schwarze Vogel imponierte ihm. Raben waren alt wie die Welt, bestimmt noch älter als alle Esel!?
Raben saßen schon Wotan zur Seite und berieten ihn in schwierigen Fragen. Also mussten sie seit ewigen Zeiten klug sein, wohl noch klüger als die Eulen in Athen oder der schlaue Fuchs im Blätterwald?


„Mäßige deine Zunge Bürschchen! Schmeicheleien beeindrucken mich längst nicht mehr.
Rede frank und frei mit mir, ohne umschweifende Sophismen! Sag’ geradeaus, was dein Begehr ist!
Du meinst sicher den großen Strom, den alten Strom, in dessen Fluten alles wogt und schwindet? Wo der Wechsel wohnt und die Vergänglichkeit?“
krächzte der Rabe.
Es war ein poetischer Rabe, der manchmal, wenn er Lust dazu verspürte, in tiefschwarzer Nacht an die Fenster der Dichter pochte, um sie zu großer Lyrik zu inspirieren; und er war ein besonderer Vogel, der den Lauf der Geschichte panphilosphisch deutete, ohne noch viel Sinn für den Zank der Zeit zu entwickeln. Was auf der Erde ablief, war für ihn, den Geist der freien Lüfte, unerheblich.
„Führt mich der Strom in die bunte Welt hinaus, wenn ich im folge?“
forschte das Eselein beharrlich weiter.
„Vielleicht!“
antwortete der Rabe trocken.
„Aus dem Wasser kommt alles – und in das Wasser kehrt alles zurück. Selbst wir Vögel und ihr Esel“
ergänzte er dann lakonisch, weil er mit den Elementarphilosophen liebäugelte:
„Folge dem Weg des Wassers – und du wirst das finden, wonach du suchst, deine Wesenheit vielleicht, dein selbstestes Selbst!
Bahne dir deine eigene Bahn – hinab zur Mündung oder hinauf zur Quelle. Dein Innerstes wird dann darüber entscheiden, ob du dich treiben lässt wie ein Kadaver im Ganges oder ob du schwimmst wie die muntere Forelle im Wildbach.
Du wirst schon selbst fühlen, ob du den Widerstand brauchst, den du vielleicht suchst oder ob du ihn besser fliehst.
Die Stimme  deines Herzens wird sich regen, noch mehr als dein Verstand.
Lerne mit dem Herzen denken und mit dem Verstand fühlen, dann wirst du Wahrheiten sehen, die anderen verborgen bleiben.
Schon lange habe ich dich im Blickfeld.
Dein Tummeln sah ich auf der Wiese und deine Studien in der  Dorfschule. Auch ich habe dich mehrfach auf dem schmalen Pfad hierher beobachtet. Tapferkeit ist dir eigen …  und guter Mut. Deine geschundenen Hufe und dein zerzaustes Fell zeugen von spitzen Steinen, von Stacheln und von Dornen. Das hier ist ein Kreuzweg, ein Scheideweg, Faustinus!
Und du wirst dich bald entscheiden müssen wie Herakles.
Willst du weiter wandern? Oder doch lieber weichen – und in der Hauptstadt zum Wolf werden?
Schämen brauchst du dich nicht dafür. Denn Scham passt nicht mehr in die  Zeit. Längst ist sie dahin wie der Anstand. So manches Schwein ist schon zum Wolf geworden und auch mancher Esel. Du wärst nicht der erste, der die rückwärts gewandte Metamorphose schafft, der neue Untugenden findet und neue Farben.
Der Fuchs, mit dem ich dich habe reden sehen, hätte dir das alles auch sagen können. Doch er behält seine Weisheit, die eigentlich nur Lebensschlauheit ist, für sich und die Seinen.
Nur wir Vögel der Lüfte sind wirklich frei und wahrhaft selbstlos. Wahrheiten schenken wir so dahin, auch ohne Lohn.
Großzügig sind wir und niemandem unterworfen.
Die Wölfe haben keine Macht über uns. Wir stehen jenseits von Zeit und Gerechtigkeit, aber auch von tierischer Gewalt und menschlicher Bosheit.“
Faustinus hörte den ernst gemeinten Vortrag mit offenem Mund und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er fühlte, dass hier ein wirklicher Philosoph sprach, einer der ausreichend und tief über das Sein in der Zeit nachgedacht hatte, einer, der Nutzen für das Leben daraus zog.
Es war wohl die erhabene Natur selbst, die hier zu ihm redete - ein göttlicher Wille, der den Raben an diesen Ort und über alle allzutierischen Probleme des Alltags gesetzt hatte, um Auskunft zu geben, wenn ratlose Flüchtlinge und Unbehauste anfragten?
„Gibt es denn auch Tiere, die jenseits des Stromes leben?
Und herrscht dort himmlische Harmonie und Segen?“
fragte der kleine Esel neugierig und nachdenklich zugleich, als ihm bewusst wurde, das die angestrebte Glückseligkeit noch unerreichbar fern zu sein schien.
„In der Tat“,
 krächzte der Galgenvogel.
„Auch auf der anderen Seite des Stromes fristen Tiere ihr karges Dasein. Doch mehr nebeneinander als in trauter Eintracht. Gerade herrscht Waffenruhe. Doch die Stille ist trügerisch. Bereits ein zufälliger Funke  kann die Hölle auslösen und einen alles zersetzenden Bürgerkrieg, der noch verheerender ist als jener im Schlachtfeld, weil er die Seelen tötet und das Vertrauen der Brüder. Schnell kann daraus ein Krieg aller gegen alle werden. Obwohl es da drüben jenseits des alten Danubius kaum Wölfe gibt, ist jede Tierart der anderen ein Wolf.
Gottheiten, Farben und Symbole entzweien sie – und ewige Zwietracht.  Jetzt herrscht noch die Lebensphilosophie der Stachelschweine, die sich wärmen, ohne sich zu nahe kommen. Doch wird die Sphäre des Einzelnen einmal durchbrochen, wird die Freiheit beschnitten oder die Würde verletzt, dann gibt es wieder Krieg, wilden zerstörerischen Krieg. Die Menschen haben es den Tieren vorgemacht in ihrer Evolution  – doch auch die Tiere sind noch nicht viel vernünftiger als die späten Menschen. Es ist halt nichts mit der Creatio perfecta …“

Der Rabe seufzte wie einer, der immer optimistisch blieb, obwohl die Welt von Negativität erfüllt war. Der Geschichte zusehen, war nicht immer angenehm.
Höheres Leben heißt Kampf. Kampf aber bedeutet Vernichtung. Und Destruktion bedeutet, Kummer, Leid und Tränen. Am Ende der Kette warten meist nur Orkus und Hades, Schmerz und Tod. Das wusste der Rabe; er sagte es aber nicht trotz aller Desillusion, weil jungen Aufstrebenden die Lebenshoffnung nicht genommen werden soll, noch bevor sie richtig begründet wurde.


„Danke – für die erhellenden Worte“, murmelte Eselchen Faustinus höflich bevor er schied, senkte sein Haupt und trottete dann müde davon, ohne die aufkommende Resignation ganz verbergen zu können.
„Gute Reise – und viel Glück auf allen deinen Wegen“ krächzte ihm der Rabe schwach hinterher; er sah nicht viel Gutes, wohl wissend, dass hohen Erwartungen bittere Desillusionen folgen werden. Dann senkte er die Lider und verhüllte sein adlergleiches Antlitz im schwarzen Federkleid, so als ob er von der Welt künftig nichts mehr wissen wollte.




Copyright: Carl Gibson

Der Fuchs



Von den Schreckensbildern der Nacht angetrieben und verfolgt, schritt Faustinus voran, einem höheren Ziel entgegen. Immer, wenn Mutlosigkeit aufkam, biss er die gesunden Zähne zusammen und sagte zu sich selbst einen Satz, den ein alter Esel aus dem Nachbarstall oft vor sich her gemurmelt hatte, wenn die von den Wölfen auferlegte Arbeit gar zu hart ausfiel:
„Lerne leiden, ohne zu klagen!“
Das war nun auch sein amor fati, seine Liebe zum eigenen Schicksal. „Entweder ich finde irgendwann Freiheit und Glück oder ich scheitere auf dem Weg zum hehren Ziel“,
sagte sich Faustinus, ergänzend: „
„Lieber unter dem Misthaufen begraben liegen, als ein Leben lang auf dem Misthaufen existieren zu müssen.“
Dieser Impetus der Selbstachtung und ein ausgeprägter Sinn für die Würde des Esels – symptomatisch für die Würde aller Geschöpfe, auch des fernen Menschen – waren tief in ihm verankert. Es war ein ethisches Grundgefühl, das die Natur so vorgegeben hatte.
Sie war ihm eingeimpft worden, diese Moralität, als göttlicher Kompass, um zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Faustinus fühlte, dass einer Existenz nur dann Sinn zukommt, wenn sie auf Würde beruht, auf Freiheit und Gerechtigkeit. Als Schuft und Werkzeug wollte er nie und nimmer leben.
Doch gerade dies sahen die Ideologen der Wolfswelt anders. Hier und jetzt hätte er zum Wolf werden sollen, zum perfekten Wolf, der selbst dem anderen Wolf ein Wolf ist, wenn es ein muss und die höheren Zwecke des Lupismus und der Staatsraison es fordern. Faustinus hätte zum Jäger mutieren müssen! Zur Maschine des La Mettrie! Und zum Schlächter auf Befehl!
Nur hatte ihn das allmächtige Schicksal der anderen Seite zugewiesen, der Front der Entrechteten, der Friedfertigen, der Erleidenden.
„Es ist doch besser Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun“,
sagte sich Faustinus mit den alten Römern, die zwar die Esel verspotteten, ansonsten aber ganz gute Beobachtungen machten. Das Eselchen hatte zeitig den Seneca gelesen, seine Ausführungen über das glückliche Leben, aber auch manch Tröstendes über Duldsamkeit und Beharrlichkeit.
Durfte er jetzt an Kampf denken?
War Auflehnung nicht ein Akt der Hybris?
Und war es nicht Sünde, gegen die Ordnung der Götter zu rebellieren wie Prometheus und Atlas, Ikarus und Sisyphus?


Schwere Gedanken dieser Art gut geeignet ihn wieder in die Mutlosigkeit zurückzuwerfen, zermarterten gerade wieder sein Eselsgehirn, als Meister Reineke daher kam, der schlaue Fuchs aus dem Mythos, der den Wölfen schon so manchen Streich gespielt hatte. Da Faustinus von seiner sprichwörtlichen Klugheit wusste, begrüßte er ihn voller Ehrfurcht und verwickelte den Altmeister der Wendungen und Täuschungen gleich in ein philosophisches Gespräch über einige teleologische Fragen, die Kant nicht ganz zureichend beantwortet hatte.
Sie redeten über die Praktikabilität von Metamorphosen im Tierreich, von Konversionen und Konvertiten, von Mutationen fleischfressender Tiere zu Vegetariern, von den Werten der Tierwelt, vom Lupismus und Ursismus, vom verstockten Menschen und von der Rolle des Homo sapiens im Kreislauf der Creatio ex nihil. Schließlich besprachen sie auch eine Sentenz, die einst ein begabter expressionistischer Dichter angesichts bestimmter historischer Abläufe formuliert hatte:

Die Krone der Schöpfung das Schwein der Mensch – oder die Krone der Schöpfung der Mensch das Schwein.
Die Philosophie als grundlegende Weltwissenschaft, aus der sich alle anderen Wissenschaften erst spät emanzipierten, kannte keine Tabus. Bevor alles zu bezweifeln war, musste erst über alles geredet werden. Oder?
Der Fuchs, der im überwiegend atheistisch ausgerichteten Staat der Wölfe eine öffentliche Position innehatte, die in ihrem Rang und politischer Bedeutung der eines Kardinal Richelieu gleichkam, war sehr an getan von der Scharfsinnigkeit und gedanklichen Flexibilität des Jungesels auf der Walz.
Bevor sie voreinander schieden, lud der „Kardinal“  das Eselchen ein, ihn in der Hauptstadt des Lupus-Staates zu besuchen, um dort vielleicht sogar den obersten aller Wölfe in praller Vitalität erleben zu können, wenn er in einer vom wölfischen Furor getragen Rede vor die Massen trat.
Der Fuchs wusste nur nicht, dass dieser zarte, sylvanische Waldsesel, wiederum beeinflusst vom weisen Seneca, dem Furor in allen Formen misstraute, selbst dem gerechten, um dafür verstärkt auf das befreiende Lachen zu setzen.
Lachen enthemmt und entwaffnet.
Lachen, das war eine pazifistische Waffe, die viele verkannten, weil sie das „Über-Sicht-Selbst-Lachen“ ablehnten wie den Sarkasmus, die Satire, die Selbstironie, ja selbst die feine Ironie.
Ernst war die Welt – zu ernst. Tierisch ernst?
Die spontane Einladung in die ferne Wolfsburg ließ Eselchen Faustinus zunächst zusammenschrecken,natürlich aus historischen Gründen vermengt mit jüngsten Erfahrungen im Wald, gemahnte der Weg dorthin doch an den Einstieg zum Hades, zur Urgrund der Hölle!? Eine Stadt der Wölfe? Sogar die Hauptstadt? Ein Graus!
Die letzte Bartholomäusnacht wirkte noch nach; und mit ihr der Geruch frischen Blutes, den eine vegetarische Eselsnase besonders abscheulich empfindet.
Gerne hätte Faustinus noch ausgelotet, wie der von den Füchsen getragene Klerus mit dem gottlosen System auskam, das die Religion zur Ideologie umgeschmiedet hatte. Doch die eigene Gefährdung erschien ihm zu groß. Wer konnte diesem Fuchs, der nicht nur einen Januskopf, sondern gleich mehrere Gesichter hatte, wirklich trauen?
Spielte nicht auch er ein doppeltes Spiel wie alle Machtgestalten der Geschichte?
Und war er nicht ein großer Zauberer, dem Besen gehorchten und Marionetten? Einer, der für jede Situation eine Maske parat hatte und ein Rezept?
Vorsicht war angesagt, denn Füchse galten als Alliierte der Wölfe und profitierten vom System. Vielleicht war dieser Kanzler gar mächtiger als der Diktator?
Die existenziellen Erfahrungen und die letzte Gräuelnacht im Wald hatten den Esel vorsichtiger gemacht. Faustinus wollte nichts Unbedachtes tun, nicht allzu viel riskieren. Also verabschiedete sich der Freisinnige und ging seines Weges, ohne dem arglistigen Fuchs zu offenbaren, wohin es eigentlich ging. Schließlich hätte dieser dem Trupp der folgenden Prätorianer einen Wink gegen können.



Copyright: Carl Gibson

Freitag, 2. September 2011

Hetzjagd - Traum und Albtraum





Während seine Anschauung von dem, was er nunmehr Weg nannte, konkreter wurde, während ein Plan heranreifte, wohin die nächsten Schritte führen sollten, fühlte Faustinus, wie die Müdigkeit in den Gliedern hochstieg und wie diese allmählich Körper und Seele erfasste. Asketisch ausgerichtet und auf innere Reinigung bedacht, hatte er bisher nur an wenigen Grashalmen geknabbert und noch keine kühle Quelle gefunden, um zu trinken. Nur das Geistige trug ihn, große Gedanken und noch größere Erwartungen.
Gegen Abend, als die aufziehende Dämmerung den Wald noch finsterer machte und die nahende Nacht ankündigte, wurde der junge Waldesel aus Siebenbergen zunehmend mutloser und schlaffer. Als es nicht mehr richtig weiter ging, ließ sich Faustinus irgendwann ins grüne Moos fallen und schlief gleich fest ein.
Spät in der Nacht, ganz kurz vor dem Morgengrauen hatte er dann einen schönen Traum. Es war ein Traum, den auch Menschen schon geträumt hatten – ein Traum vom ewigen Frieden.


Hinträumend gewahrte er, wie die Tiere des Waldes vereint auf einer Lichtung zusammen trafen und Karneval feierten, ein Fest der Verbrüderung aller Fleischfresser und Vegetarier, fern von jedem Zank und Streit, ohne Rivalitäten, ohne Feindschaft, dafür in Vertrautheit und reinster Harmonie.
Ewige Jugend und Schönheit hatten die Angst und den Tod verjagt. Und das Glück aller pulsierte in der ganzen Natur. Faustinus Optimus sah etwas vom glücklichen Zeitalter aller Geschöpfe dieser Erde. Er sah paradiesische Bilder, wo selbst Tier und Mensch in Frieden miteinander lebten; und er sah das, was er sich immer vorgestellt hatte, wenn er über Visionen von der perfekten Schöpfung las und darüber nachdachte. Keiner auf dem großen Fest brauchte sich hinter Masken verstecken. Es war ein Karneval der Offenbarung und der Offenheit ohne Larven. Schlangen, Wölfe, exotische Tiere aus dem fernen Afrika, ja selbst aus Madagaskar und Tasmanien waren da, neben Bergziegen und Schafen, Fischen und Echsen, Auerochsen und Schakalen, Amseln und Drosseln, Hyänen und Geiern, Zaunkönigen und Raben, alle friedlich vereint  wie auf der Arche des frommen Noah in göttlicher Eintracht und Harmonie. Jedes zum vollen Bewusstsein seines Selbst gelangte Tier stand nur für sich da, als Person, als freies Individuum mit offenem Visier. Die Allegorien waren weit wie die oft missverständlichen Symbole.


Musik erklang. Ein buntes Tierorchester spielte Mozart – die verschollene Versöhnungssymphonie. Die Partitur war damals achtlos mit ins Massengrab geworfen worden, als sie die sterblichen Überreste des Genies versenkten. Doch eine aufmerksame Nachtigall, die während der nächtlichen Entstehung gelauscht hatte, kannte die holden Töne, zeichnete sie auf und rettete sie für die Tierwelt.
Jetzt erklang die Symphonie der Freiheit und Brüderlichkeit im Ohr des Waldesels. Jenseitige Musik vernahm Faustinus, Musik der Sphären, Töne des Wohlklangs und der Entrückung. Die Seele wollte gerade überfließen und mystisch im Nichts aufgehen, das Alles war, als ein heftiger Paukenschlag das Traumbild zerstörte und den Träumenden zurück riss ins Leben.
Ein weiterer Knall folgte.
War das ein  Schuss? Und dann noch einer? Und noch mehr Schüsse. Jetzt knallte es in allen Büschen. Und ein heller Waldhornton rief zum Halali.
Der Morgen graute. Blutrot glühend stieg die Leben spendende Sonne empor. Und ein Gemetzel begann:
Vor den Augen des noch verschlafenen und doch arg aufgeschreckten Eseleins, genau dort, wo das Tanzfeld  war und der harmonische Reigen abging, herrschte jetzt wildes Kampfgetöse. Doch auf dem Schlachtfeld tobte eine ungleiche Schlacht. Grausen kaum auf und Fürchten. Das Eselchen Faustinus, das eigentlich ausgezogen war, um frei zu sein und glücklich zu werden, das kein Gruseln erfahren wollte und kein Schaudern, war durch einen Zufall in die nächtliche Treibjagd geraten. Urplötzlich befand es sich in der Mitte des Geschehens, mittendrin in Angst und Schrecken, in Leiden, umgeben von Tod und Verderben. Der Todestanz schwoll an wie eine  tosende Flut nach starkem Regen. Die Kugeln peitschten durch den Wald und zischten knapp an seinen langen Ohren vorbei. Fast wären sie ins Auge gegangen. Faustinus duckte sich ängstlich, dann kroch er vorsichtig noch tiefer ins Gebüsch hinein und sah sich das Gemetzel aus fernem Versteck an. Der zart besaitete Waldesel aus Concordia  musste nun erschüttert mit ansehen, wie Seinesgleichen niedergemetzelt wurden wie in einer Vernichtungsschlacht. Blut floss in Strömen – und die Wölfe rasten im Blutrausch.


War das gerecht, was hier ablief?
Das göttliche Recht schien hier nicht zu greifen. Ein Rehlein rannte aus Leibeskräften, angstgetrieben und in Verzweiflung. Doch die rauen Wölfe kreisten es ein und bissen es schnell tot, noch bevor das Herz im Leib vor Anstrengung und Furch zersprang.
Das schützende Laubwerk um Faustinus herum konnte das Grauen nicht fernhalten. Das arme Eselchen stand an der Grenze mitten in einer Grenzsituation zwischen Sein und Nichtsein – und gleichzeitig befand es sich mitten in dem Gemetzel, wo der Tod blühendes Leben dahin raffte. Gnadenlos war die Realität jenseits der Bücherwelten –  der Abgrund und das Scheitern hatten viele Gesichter.
Betroffenheit kam auf, tiefste Betroffenheit und ein Mitgefühl, Empathie in das Los der Kreatur, die sich nicht angemessen wehren konnte, die tragische endete, weil die Natur dies so auserkoren hatte.  
Wo war der lenkende Staat, der die Schwachen schützte, mit einer moralischen Ordnung und mit wirksamen Gesetzen?
Oder war es gar der Staat selbst, der morsch geworden war?
„Wenn ich diese Gräuel heil überleben sollte, dann werde ich nie aufhören, darüber zu berichten“,
gelobte Eselchen Faustinus feierlich vor sich selbst, still hoffend, eine  Gottheit möge dieses Stoßgebet gütig aufnehmen.
Das Morden ging mit gleicher Heftigkeit weiter. Und das rinnende Blut färbte den Wildbach rot.
Mitleid erfasste das Eselein und Mitleiden. Es fühlte den Schmerz und die Todesangst in mitfühlendem Sein, in Sympathie, so, als würde das eigene Ende bevorstehen. Das war erlebte Verzweiflung und Ohnmacht zugleich.
Was sollte der schwache Esel tun? Und was konnte er überhaupt ausrichten in einem aussichtslosen Gemetzel?
Worin bestand die Maxime seines Handels in höchster Not?
Altruistisch als Esel dazwischenfahren, mit den Hufen auszuteilen, um einigen Wölfen die scharfen Zähnen einzuschlagen?
Wirkungsvollere, todbringende  Waffen hatte Faustinus nicht. Sollte er sich jetzt selbst heldenhaft opfern, um andere zu schonen?
Oder galt es nur noch, das eigene Fell in Sicherheit zu bringen, sich selbst zu retten, um später die Welt zu bessern?
Was war existenziell – und was idealistisch, edel?
Die Seele bebte, der Verstand war konfus. Rationale und irrationale Mächte tobten in Gehirn und Brust. Entscheiden konnte Faustinus jetzt  nicht mehr selbst. Etwas entschied in ihm, eine Kraft, über die er keine Kontrolle hatte. Und dieses Etwas, was bestimmt keine Feigheit war, hielt ihn von der Verzweiflungstat zurück.
War es Lebensklugheit oder der nackte Überlebenswille vielleicht?
Ein Instinkt, eine innere Stimme geleitete das Eselein, eine Kategorie des Unbewussten, die ihm bisher noch nie aufgefallen war. Und diese Stimme gebot ihm streng, sich selbst zu retten wie die Tauben, Elstern und Nachtigallen, die gerade aufgeschreckt aus den Baumkronen stoben und hinaus flogen in die unsichere Finsternis der Nacht, den Eulen und Falken entgegen.


Mehrere Rudel Wölfe griffen in militärischen Formationen an und trieben Rotwild und Eber, Wildsäue und Frischlinge durch den Wald in einen Kessel.
Dort fand dann der Blutrausch statt, die Kesselschlacht: das sinnlose Morden aus Lust, nicht aus Hunger. Der Tod zeigte sich erneut mit Macht und seine Sense mähte blühendes Leben dahin wie in einem Gemälde von Breughel.
Wo lag der höhere Sinn dieses Tuns?
Die Seele des kleinen Esels erbebte so stark, dass sie sich nie mehr ganz erholen konnte. Mit diesem Erlebnis war die Unschuld blühender Jugend auf einmal dahin – und das Leben erschien Faustinus in menschlicher Brutalität. Solche Szenen kannte es zwar aus der Weltliteratur und der blutigen Menschheitsgeschichte, doch ausmalen konnte es sie erst jetzt. Jetzt erst erfasste er den Terror unmittelbar in naturalistischer Schärfe. Die Romantik mit ihren metaphysischen Hinterwelten zerstob in der Realität des Daseins. Während die wild gewordenen Gedanken kreisten, ging das Gemetzel ging weiter.

Selbst der Hirsch war nun auf der Flucht, der stolze Hirsch, der sonst keinem Kampf aus dem Weg gegangen war, der kein Duell gescheut hatte, der Prinz des Waldes, der sonst ritterlich kämpfte wie ein antiker Heros.
Nur diesmal wich selbst er der Übermacht der Wölfe, die in größerer Zahl in das ungleiche Gefecht strömten und große Beute machten. Das gute alte Recht der Mächtigen, die sich das nehmen, was sie wollen, stand ihnen zur Seite, wölfisches Gewohnheitsrecht, das Bestand hatte, seitdem alle Lebewesen den Garten Eden verlassen hatten.


Kein Gesetz, kein Staat, kein Staatenbund war da, der die Schwachen, die Ausgelieferten, die Ohnmächtigen schützte.
Der betroffene Esel erlebte die Vernichtung mit Grausen. Innerlich erregt zuckte er beim Aufschrei der Kieze und Frischlinge zusammen, so, als wäre er selbst gepackt worden. Aus lauter Furcht zog er sich erneut tiefer ins Gebüsch zurück.
Todesängste kamen auf. Und zum ersten Mal in seinem jungen Leben schwitzte er.
War das sein Ölberg, sein Golgatha?
Unbewusst drückte Faustinus die Hufen gegen Augen und Ohren, weil er den Horror des Abschlachtens nicht mehr ertragen konnte, der vor ihm ablief.
War das die heile Welt mit der prästabilierten Harmonie?
Die beste aller Welten?
Horror und Terror?
Krieg ohne Kriegserklärung?
Vergeltung als Machtdemonstration und Einschüchterung?
War das die „schöne, neue Welt“ nach der Sintflut? Die beste aller bestehenden Welten?



Oder war es doch nur eine Welt der Wölfe, in der er fortan nicht mehr weiter leben wollte.
„Lieber heroisch  scheitern wie der Hirsch im Kampf, lieber tot sein, als zum Wolf zu werden, zur triumphierenden Bestie“
tröstete sich Faustinus enttäuscht im Kummer.
„Auch ich werde kämpfen müssen, wenn mir Gewissen und Seelenheil etwas bedeuten“,
machte er sich Mut. Doch dann harrte er weiter tatenlos aus, weil er leben wollte.
Am nächsten Morgen, als die kühle Walderde das dampfende Blut aufgenommen hatte und alles wieder still, ja friedlich schien wie auf einen Friedhof nach der Bestattung eines jungen Helden, erholte sich auch der kleine Waldesel von den Erlebnissen der Nacht. Es dauerte eine gute Weile, bis der Terror, der Faustinus tief ins Mark gefahren war, auch noch andere Gefühle und Gedanken zuließ.
Das gerade erst Erfahrene wirkte nach, lähmte seine Reiselust beträchtlich und ließ ihn zaudern. Sollte er doch lieber umkehren, sich auf ewige Zeiten im warmen Stall verkriechen, den Misthaufen erdulden die Langeweile und so ein bescheidenes Leben fristen bis zum Tod – als gefügiger Untertan?
Oder sollte er weiter schreiten in die kalte Welt?
Allmählich wurde Faustinus bewusst, dass er kein Abenteurer war, der auszog, um das Fürchten zu lernen, dass er kein romantischer Wandersmann war auf der Walz, der die Natur erfassen und genießen wollte. Es war auch kein frommer Pilger, der Gott suchte oder die mystische Einheit, sondern - und das fühlte er mit Schmerz:
ein Gejagter war er, ein Flüchtling ohne Heimat und bald auch ohne Vaterland!
Diese Erkenntnis, die bisher noch nie in dieser Deutlichkeit aufgetreten war, erschütterte ihn nachhaltig. Faustinus wäre aber kein wahrer Esel gewesen, wenn er sich nicht schon nach einiger Zeit des fatalistischen Hin- und Hersinnens wieder aufgebäumt hätte und trotzig seiner Bahn gefolgt wäre, überzeugt, dass keiner seiner letzten Bestimmung entgehen konnte.
Das Erlebte war sicher nur als Prüfung gedacht, als Läuterung, hinter welcher höhere Aufgaben und Zwecke warteten?
Eine gütige Gottheit hatte es sicher so gewollt?
Und die Götter gaben Faustinus unsägliches Leid, um ihn das später das Glück voll auskosten zu lassen.
Der Mut des Tüchtigen, der nicht gleich nach dem ersten Weh verzagt, trieb Faustinus weiter an und das Vertrauen auf die ferne Gottheit, deren Vorstellung ihn beschäftigte.


Wenn es blutig wurde auf der Welt, dann standen meist die Götter dahinter in ihren höheren Zwist. Also war es sinnvoll, auch über die Götter nachzudenken und über ihr Verhältnis zur irdischen Kreatur.

„Wenn ein Kreis sich die Gottheit vorstellt oder ein Dreieck, dann ist Gott zweifellos ein Kreis oder ein Dreieck“,
kombinierte er mit Spinoza.
 „Und wenn ein Esel sich ein höheres Wesen vorstellt, dann kann das notweniger weise nur ein … sein?“
Faustinus hielt inne. Von den eigenen Syllogismen erschreckt, wagte er es auf einmal nicht mehr, weiter zu denken. Früher schon an der Krippe im Stall hatte er von sündhaften Gedanken gehört, von Blasphemie, von den Foltern und Martern der Inquisition, die dem drohten, der seinen Gedanken freien Lauf ließ, der laut kombinierte und philosophierte, der laut dachte und laut träumte. Eine gefährliche Sache – diese Philosophie! Doch was konnte Faustinus dafür, dass gerade ihm eine philosophische Ader beschieden war; und dass sich gerade ihm Gedanken und Ideen aufdrängten, die anderen ketzerisch erscheinen konnten?
Leben ist Leiden, hatte Schopenhauer geschrieben, nachdem er die Lehren Buddhas und die Leidensgeschichte Christi studiert hatte. Und die intellektuellen Esel litten am meisten, vor allem die wahren Freigeister, die nicht alle ihre großen Gedanken für sich behalten und verbergen wollten, sondern frei redeten und lehrten wie Bruno und Galilei.
Zweifel überkamen ihn jetzt wie finstere Dämonen, obwohl die Sonne noch nicht im Zenit stand und der Große Mittag noch weit war. Hunger quälte ihn und Ermattung.
Sollte er überhaupt noch weiter gehen? Und wohin, wo doch alles verbaut war, wo kein Weg erkennbar war – und keine Perspektive? Pessimismus kam auf und für Momente schlichen sich auch ein paar nihilistische Gedanken in sein Gehirn.
„Wer bin ich?“
fragte sich der Esel.
„Denke ich noch, oder denkt es in mir?
Habe ich einen eigenen Willen – oder ist es der blinde Weltwille, der durch mich denkt und dessen Medium ist bin?
Habe ich überhaupt einen Eigenwert, eine Würde?
Gibt es eine Würde des Esels und ist diese unantastbar?“
Zweifel über Zweifel. Nebel und Ungewissheit? Ein grauer Esel mitten im grauen Nebel – welch ein Bild! Wozu hatte Descartes geraten, als er sah, dass er es war, der dachte – und nicht der Weltgeist? Immer geradeaus gehen im Wald, immer in eine Richtung, nie im Kreis! Das war die Lösung des gesunden Eselverstands. So kommt man aus dem Wald heraus und an das Ziel!
Eselein Faustinus blickte auf und sah die gütige Sonne. Sie, das gekrönte Gestirn, sie, die alles an den Tag brachte, war sein natürlicher Kompass, sein Faden aus dem Labyrinth – und der Schopf, aus dem es sich selbst aus diesem Morast der Wolfswelt befreien wollte. Dem hohen Himmelslicht wollte er weiter folgen, denn er war ein Lichtmetaphysiker, der die Sonne verehrte, weil sie alles Leben ermöglichte.
Die Sonne war kein Fetisch, nein!
Wenn die Gottheit nicht die höhere Form seines Ebenbilds verkörperte, dann musste sie die Sonne sein!
Ihr wollte er nunmehr folgen wie Echnaton bei Tag - … und in der Nacht dem guten Mond, dem sie ihr Licht lieh, und mit dem eigenen Stern auch fernen Sternbildern, die das Schicksal der Erdbewohner vorher bestimmten wie der kalte Saturn, in dessen Zeichen er geboren war.
Der Saturn hatte ihm zum Melancholiker gemacht, zum Liebenden und zum Leidenden.
Und der Saturn hatte ihm die Lust verliehen, nicht nur die Liebe zu genießen und den Schönen Schein, sondern auch die göttliche Offenbarung in der Musik, im Harfenspiel und im Gesang. Die Lust wogte in seiner Brust und aus der Kehle entschlüpfte ihm ein leises I- Aaa.
Was wussten andere Kreaturen von diesen göttlichen Dingen?
Mit traurig schönen Gedanken befrachtet und einen zarten Gefühl von Glück, wie es nur ein melancholischer Esel empfindet, trottete Eselchen Faustinus quer durch den Wald, immer geradeaus und konsequent dem Ziel entgegen; zum Fluss zunächst und dann zum Meer – und vielleicht noch darüber hinaus: nach neuen Meeren wie Kolumbus der Seefahrer. Langsam wurde Faustinus klarer, wer er eigentlich war und was er wollte. Ewig andauerndes Glück und endgültige  Zufriedenheit, das waren Fernziele, Ziele für reifere, für alte Esel. Er aber war noch ein Jüngling in edelsten Jahren. Also drängte es ihn zunächst nach ganz bescheidenen Dingen. Ein Leben in Freiheit und Würde, das wäre schon einmal eine Basis, auf der das künftige Lebensglück gedeihen könnte. Keine Zuckererbsen für jeden! Nur einige elementare Werte, die jeder Esel zum Leben braucht.
Jetzt wusste er es jetzt wirklich: er war ein kleiner Esel, der frei sein wollte – und dann auch glücklich!



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Die Eule






Nachdem der heroische Esel sich eine gute Weile durch den Wald gekämpft hatte und irgendwann müde geworden sein Haupt der Sonne zuwandte, um in ihrem Licht Trost und neue Kraft zu finden, sah er im Gipfel einer alten Eiche eine Schneeeule sitzen.
Es schien, als ob sie schliefe. Doch die Eule ruhte nur aus von den Streifzügen der Nacht und dachte beim Verdauen einer Maus, die sie zum Frühstück verspeist hatte, über den Lauf  des Lebens nach –
über das Sein des Seienden und das Nichten des Nichts.
Sie sah den nahenden Esel wohl; doch sie ließ es sich nicht anmerken. Der kleine Held aber scheute es nicht, den stillen Vogel der Nacht anzusprechen.
Schneeeulen sollen besonders weise sein, hatte ihm einst ein alter Esel zugeflüstert. Jetzt konnte er diese Wahrheit selbst überprüfen und vielleicht von dem Weltwissen des über den Dingen schwebenden Geistes der Lüfte profitieren, wenn es denn stimmte, was man Eulen so nachsagte in Athen:
„Eule“,
redete sie der kleine Esel freundlich an,
„ist das hier die große weite Welt, die perfekte Welt, von der die Gelehrten reden in den Hörsälen der Akademie?
Oder gibt es noch eine andere Welt hinter dieser Welt und ein Weltall über ihr, wo ein großer Vater wohnt?“
Die Eule, die wirklich bereits Tieferes vom Wesen der Seinsformen erfasst hatte, merkte natürlich gleich, dass dieser Esel noch grün war hinter den Ohren, aber neugierig und unverfälscht wie die meisten jungen Geschöpfe. Sie durfte seinen Wissensdurst auf keinen Fall hemmen, ihn gar bremsen oder enttäuschen und ihn mit Zweifeln von der Suche abbringen, hinter der vielleicht das Selbst in Erscheinung trat. Deshalb sagte sie ermutigend mit altchinesischer Gelehrtheit:
„Geh’ ruhig weiter.
Der Weg ist oft das Ziel.
Die Schöpfung wird sich dir nicht verschließen. Du wirst noch viele Dinge erleben und manche Erfahrung machen. Und irgendwann wirst du auch Entscheidungen treffen müssen. Geh nur mutig weiter und folge der Stimme deines Herzens … und deinem scharfen Eselsverstand, dann wirst du dein Ziel sicher erreichen.“
Damit wandte sich die Eule etwas gelangweilt ab, schloss die kleinen Augen und versank in ihrem schneeweißen Federkleid. Ihr war schon längst bewusst, das viele Wege zu einem Ziel hin führten und viele Straßen nach Rom oder Athen.
Östliche Wege gab es und fernöstliche.
Gottes war der Orient und Gottes war der Okzident.
Das Schicksal der Welt ruhte in seinen Händen. Nur Atlas musste den Himmel schleppen gleich einem Wüstenschiff.
Der kleine Faustinus aber blieb allein zurück, beschäftigt mit den sibyllinischen Aussagen des lebenden Orakels, in denen viel Weisheit verborgen schien und wenig Klarheit.
War das alles ernst gemeint oder schwangen da noch einige Zwischentöne mit, und ein Hauch von Ironie, der alles gültige Wissen verhöhnte?
Wer Ohren hatte, konnte sehr genau hinhören. Und Esel waren sensible Tiere mit großen Ohren, wahre Meister der Differenzierung, die auch die feinsten Nuancen der Sprache auseinander halten konnten. Nur wusste kaum einer etwas vor dieser Fertigkeit.
Für die meisten Bürger der Republik, denen die Wesenheit der Esel so verschlossen blieb wie jenes Zauberbuch mit den sieben Siegeln, war ein Esel eben nur ein Esel, also ein Vierbeiner mit einem grauen Fell, ein Hase in Großformat, so wie der Tisch ein Tisch und der Stuhl ein Stuhl war, ganz nach dem Leitspruch der Nominalisten im Wald: nomen est omen.
Deshalb weigerten sie sich die Theoretiker auch anzunehmen, es gäbe eine Eselheit – und beriefen sich dabei streng auf Platon. Vorurteile, alles Vorurteile. All das wusste Eselchen Faustinus,der zwar naiv erschien, aber längst nicht dumm war.
Doch was nun?
Wie waren die rätselhaften Worte der Eule zu deuten?
Von einem Ziel hatte der ominöse Vogel gesprochen und von einem Weg dahin?
War ein langfristiges Ziel gemeint, Lebensglück und Zufriedenheit, Tao und Karma? 
Waren es höhere Erkenntnisse, Tugenden?
Wahrheit?
Gerechtigkeit?
Oder gar Freiheit?
Oder nichts vom alledem, nur Nichts und kein Seiendes?
Und bedeutete Freiheit schon Glück?
Oder musste die Gerechtigkeit noch dazu kommen, gar die Gerechtigkeit für alle?
Wie konnten diese Werte als Summe alles Guten auf einmal erreicht werden?
Von schweren Fragen und Gedanken nieder gezogen, trottete das Eselein weiter durch den Wald, ohne ganz zu vergessen, dass ein Suchtrupp des Sicherheitsdienstes schon hinter ihm sein konnte, rüde Häscher, bereit, Vagabunden und Freigeister  jederzeit in Ketten zu legen und zur Fronarbeit im Bruch zu zwingen. Je intensiver Faustinus sich mit solchen Vorstellungen abgab, desto eindeutiger fühlte er sich verfolgt. Nur durfte aus dem Geistersehen im Busch keine Wahnidee erwachsen, kein ausgekochter Verfolgungswahn, der überall auf Gefahren und Feindseligkeiten verwies.
Irgendwo in der Gegend, davon hatte das Eselein gehört, wurde ein großer Kanal ausgehoben, ein Wasserweg für Binnenschiffe, der den großen Strom mit den Weiten der Meere verbinden sollte. Viele Esel schufteten dort im patriotischen Einsatz, freiwillig, wie es offiziell hieß. Und unweit wurde ein fester Grenzwall aus dem Boden gestampft, zum Schutz des gesamten Staates gegen anstürmende Feinde aus Ost und West, so wie einst im alten China.
Viele eingefangene Esel hatten dort bereits ihr Leben lassen müssen, besagten Gerüchte. Und mancher Esel sei in den Fluten der Donau versunken oder nach dem Ableben als Ballast in die Mauer mit eingestampft worden, wussten Augenzeugen zu berichten. Das Drakonische führte dort Regie.
Verstarb ein Verurteilter zu früh an Auszehrung, musste ein Familienangehöriger nachrücken und am Bau weiterschuften – und die bei der Exekution der Aufmüpfigen vergeudete Patrone wurde den Angehörigen ebenfalls in Rechnung gestellt.
Der Wille zur Macht, die Staatsraison und das hohe Ziel der Glückseligkeit aller Tiere in der noch aufzubauenden Gesellschaft des Lichts mit einem Wolf an der Spitze rechtfertigten solche Praktiken. Gnade war unbekannt – und Milde war etwas, was schleunigst überwunden werden musste.
Alle Pazifisten des Tierreichs traf das schwere Los, nicht nur ketzerische Esel. Doch Esel wurden bevorzugt eingefangen und am Mauerbau eingesetzt, weil sie die schweren Lasten am besten zu meistern wussten und weil ihre Tragfähigkeit und Leidensfähigkeit ausgeprägter war als jene anderer Tiere.
Wo Ochsen, Wisente und zähe Kaltblüter scheiterten, machten Esel noch lange nicht schlapp. Sie arbeiteten weiter in Wind und Wetter, oft tagelang ohne Futter und Wasser. Harte Arbeit war Eseln seit jeher vertraut.
Die Esel hatten schon an den Pyramiden mitgebaut und an den Gräbern der Könige vor Theben. Ihre Arbeitskraft galt etwas in der Welt, wo die Wölfe doch nur Vernichter waren.
Während Faustinus solch trüben Gedanken nachhing und dabei unmerklich hypochondrischer wurde, ja melancholischer, stolperte er gelegentlich über scharf ins Fleisch einschneidende Steine oder er rutschte im glitschigen Schlamm aus. Schmerz und Leid wurden ihm bewusster und die Qual, überhaupt leben zu müssen.
Einmal, als es einen Felshang hinauf klettern wollte, um das Gipfelkreuz aus der Nähe zu betrachten, geriet er in einen heftigen Steinschlag, den fliehende Gämsen losgetreten hatten. Einer der kleineren Brocken traf ihn wuchtig am Schädel und ließ es am hellsten Tag funkelnde Sterne sehen. Leicht ohnmächtig geworden kullerte er dann den Hang hinunter, zerzauste dabei sein glattes Fell und verstauchte sich ein Vorderbein. Nunmehr hinkte er in die Welt, angeschlagen wie manche Weisheitslehre, gestützt auf eine Krücke aus morschem Holz, die irgendwann unter seiner Last zusammenbrach und ihn noch einmal strauchelnd stürzen ließ.
Waren dies alles höhere Zeichen, die auf ein großes Scheitern hindeuteten, auf ein Golgatha, ein drohendes Waterloo?
Da Faustinus nicht allzu abergläubig war, ignorierte es das Menetekel und blieb tapfer wie die Furchtlosen im Märchen, die sich von keiner Hürde aufhalten ließen. „Als Held wird man nicht geboren“,
sagte es sich;
„ein Held wird wir man erst durch die Tat!“
Esel waren zäh, dass wusste Faustinus wohl. Aber Esel waren auch zielstrebig und diszipliniert auf ihrem Weg. Das galt unbedingt für ihn selbst, wo er doch immer schon aufwärts streben wollte, so wie andere Gipfelstürmer vor ihm in der Weltgeschichte, stets redlich bemüht als guter Esel im dunklen Drange den rechten Pfad zu finden.
Als konsequenter Bergsteiger wollte er weit hinauf, wie er als Taucher weit hinab und als Wanderer ganz hindurch gehen wollte. Keine Halbheiten wollte er, sondern immer das Maximale – und, wenn immer möglich, vom allem alles: höchste Erkenntnis und höchste Lust.
Wenn ihm eine gütige Fee drei Wünsche frei gestellt  hätte, wären zwei ausreichend gewesen. Bescheiden hätte er nur sich den Stein der Weisen gewählt, den sein Verwandter einst nicht finden konnte – und er hätte, weit besser als Don Juan, alle Eselinnen der Welt verführt und ins höchste Glück geleitet.
Den Blick zu den Sternen erhoben und tagsüber zur leuchtenden Sonne, zog es ihn immer weiter fort und noch tiefer in den dunklen Wald hinein, von der Ahnung geleitet, im Verborgenen noch mehr zu sehen,  noch mehr zu erfahren und in der Hoffnung irgendwo auf den Gral zu stoßen, der Heil bedeutete oder auf den Stein, der alles entschlüsselte und aus dem man Gold machen konnte, der aber, wenn man seine wahre Botschaft verstand, nicht nur profanen Reichtum versprach, sondern geistigen und wahre Existenterfüllung als letzte Zufriedenheit.

Eigentlich war er fast schon ein glücklicher Esel, weil er auf dem Weg war, hin zu den Sternen. Und sein Stern, der heller strahlte als andere Sterne, zeigte ihm den Weg.
Endgültiges Erdenglück, worin das wohl bestand?
In einem Ballen Heu oder in erfüllten Idealen?
Oder war das Glück nur eine Chimäre, der er vergeblich nachjagte?
„Das Wesen eines philosophischen Waldesels ist das folgerichtige Denken, das Nachsinnen über die Struktur der Welt und über die Tiefe der Seele sowie über metaphysische Hinterwelten“, sagte sich Eselchen Faustinus und wurde nicht müde, weiter zu grübeln. Das gelegentlich auch ein paar Widersprüche auftraten, perspektivische Verschiebungen; und dass die Kräfte des Rationalen und Irrationalen im ewigen Widerstreit lagen, das störte es in seinem Sinnen nicht.

Es dauerte Tage, bis der dichte Wald sich lichtete und das bergige Land hügeliger und dann flacher wurde. Weiter ging es bis hinab ins Tal, wo der riesige Strom sich mit Macht seinen Weg bahnte und friedlich träge dahin floss, bis er weit unten im Flachland ein Delta bildete, um sich dann in den ewigen Ozean zu ergießen. Diesem wollte er folgen – bis zur Mündung hin.
Ganz unten in der schwarzbödigen Tiefebene, wo die kräftigsten Gräser wucherten und die schmackhaftesten Kräuter, wo der Rosmarin gedeiht und Thymian, auch Salbei und Basilikum, dort winkte dann als Offenbarung des Erhabenen das Meer. Über das Erleben der großen Natur wollte er ebenso zum Selbst gelangen wie im Austausch mit anderen Tieren des Waldes. Das war ein erster Erkenntnisweg, hinauf zum Gipfel und hinab ins Tal.


Copyright: Carl Gibson