Montag, 5. September 2011

Der Rabe



So zog sich die Wanderschaft, die eigentlich eine Flucht war, dahin. Stagnation und Stillstand hatte der Esel hinter sich gelassen und hoffentlich auch die blutrünstigen Wölfe, deren Herrschaft er für immer zu entfliehen trachtete.
„Wenn ich auch nicht glücklich werden sollte in der absoluten Freiheit der Fremde, dann will ich mich mit dem Wert an sich begnügen“,
tröstete sich Faustinus wohl ahnend, dass Unfreiheit nie Glück bedeuten würde.

Der Geist muss frei sein, um sich entfalten zu können.
Und die Seele muss frei sein für die Liebe!
Er trottete über enge Höhenwege, streifte machen Berggipfel, zog durch finstere Schluchten, erlebte rauschende Wasserfälle und Sturzbäche, oft im Schutz immergrüner Tannenwälder, die tagsüber, wenn die göttliche Sonne schien und muntere Vöglein zwitscherten, etwas von ihrer Bedrohlichkeit einbüßten.
„War nicht das ganze Leben ein Irrgang durch ein dunkles Labyrinth, eine Bahn, die ins Nichts mündete, ein freiwilliger Weg zu Schafott, wo nur die Art des Scheiterns zur Debatte stand, wo die Freiheit nur noch da war, um das Ende als selbst bestimmtes Finale zu ermöglichen?
Und das Erdenglück eine Chimäre?“
 So grübelte das peripathetische Eselchen auf dem Abstieg in das Tal. In der Ferne spiegelte sich die Sonne in silbernem Wasser. War das der Strom? Der große Strom, der Weg allen Lebens über den Ozean in die Ewigkeit?
Leichte Wehmut kam auf und eine Sehnsucht nach dem Aufgehen in der Unendlichkeit, ein Hauch von Mystik und Melancholie.
Jugend und Ewigkeit? Ewig jung wäre Faustinus gerne geblieben … und ewig glücklich!
Oder waren das zwei Kategorien, die nicht recht zusammen passen wollten?
Das pralle Leben wartete, vielfacher Genuss im Seelisch- Geistigen, die große Freiheit der Selbstentfaltung in der Kunst, nicht die „Unio mystica“, die große Wesensschau und Versenkung im Nichts.

„Krah“
erschallte es irgendwann aus hohen Lüften.
Das Eselchen erhob seinen schweren Schädel und blickte hinauf zum blauen Himmel hin, ohne etwas zu erkennen außer den üppig grünen Baumkronen.
„Krah, krah!“
hörte Faustinus es nun noch deutlicher aus dem Blätterwerk krächzen. Dort oben im Geäst einer knorrigen Eiche, die wohl schon vielen hundert Jahre in die Zeit ragte, saß ein schwarzer Rabe, und stierte unbestimmt in eine Welt, die mehr langweilte als sie interessierte. Der Totenvogel hatte schon manches gesehen in all der Zeit. Er hockte schon da oben im Geäst, als Napoleon ins heiße Ägypten aufbrach und dann nach Moskau in den kalten Schnee. Er sah dabei zu, als der große Kaiser die Landkarte des alten Kontinents veränderte, als ein Cäsar Staaten tilgte, um neue Staaten zu schaffen, Gebilde, die heute noch bestehen – und er saß immer noch da oben an der gleichen Stelle, als andere Feldherren kamen, rücksichtlosere, weniger begabte und tierischere als jede Bestie.


Manche Leiche hatte er über die Vergänglichkeit aller Dinge reflektierend mit seinem scharfen Schnabel zerhackt. Für ihn hatte die Zeit, die vielen davonlief, keinerlei Bedeutung mehr, da er selbst schon Teil der Ewigkeit war.
Und auch der Raum, der manches begrenzte und viele Freiheiten aufhob, beeindruckte ihn nicht. Bis zur Sonne hin konnte dieser Rabe fliegen, wenn es ihm denn danach war – ohne abzustürzen wie einst Ikarus beim Sonnenflug.
Nun aber kam ein junges Eselsfohlen daher und blickte neugierig frech zu ihm hinauf:
„Ist das der Weg zum Fluss, großer Kondor?“
erkundigte sich Faustinus etwas schüchtern. Der schwarze Vogel imponierte ihm. Raben waren alt wie die Welt, bestimmt noch älter als alle Esel!?
Raben saßen schon Wotan zur Seite und berieten ihn in schwierigen Fragen. Also mussten sie seit ewigen Zeiten klug sein, wohl noch klüger als die Eulen in Athen oder der schlaue Fuchs im Blätterwald?


„Mäßige deine Zunge Bürschchen! Schmeicheleien beeindrucken mich längst nicht mehr.
Rede frank und frei mit mir, ohne umschweifende Sophismen! Sag’ geradeaus, was dein Begehr ist!
Du meinst sicher den großen Strom, den alten Strom, in dessen Fluten alles wogt und schwindet? Wo der Wechsel wohnt und die Vergänglichkeit?“
krächzte der Rabe.
Es war ein poetischer Rabe, der manchmal, wenn er Lust dazu verspürte, in tiefschwarzer Nacht an die Fenster der Dichter pochte, um sie zu großer Lyrik zu inspirieren; und er war ein besonderer Vogel, der den Lauf der Geschichte panphilosphisch deutete, ohne noch viel Sinn für den Zank der Zeit zu entwickeln. Was auf der Erde ablief, war für ihn, den Geist der freien Lüfte, unerheblich.
„Führt mich der Strom in die bunte Welt hinaus, wenn ich im folge?“
forschte das Eselein beharrlich weiter.
„Vielleicht!“
antwortete der Rabe trocken.
„Aus dem Wasser kommt alles – und in das Wasser kehrt alles zurück. Selbst wir Vögel und ihr Esel“
ergänzte er dann lakonisch, weil er mit den Elementarphilosophen liebäugelte:
„Folge dem Weg des Wassers – und du wirst das finden, wonach du suchst, deine Wesenheit vielleicht, dein selbstestes Selbst!
Bahne dir deine eigene Bahn – hinab zur Mündung oder hinauf zur Quelle. Dein Innerstes wird dann darüber entscheiden, ob du dich treiben lässt wie ein Kadaver im Ganges oder ob du schwimmst wie die muntere Forelle im Wildbach.
Du wirst schon selbst fühlen, ob du den Widerstand brauchst, den du vielleicht suchst oder ob du ihn besser fliehst.
Die Stimme  deines Herzens wird sich regen, noch mehr als dein Verstand.
Lerne mit dem Herzen denken und mit dem Verstand fühlen, dann wirst du Wahrheiten sehen, die anderen verborgen bleiben.
Schon lange habe ich dich im Blickfeld.
Dein Tummeln sah ich auf der Wiese und deine Studien in der  Dorfschule. Auch ich habe dich mehrfach auf dem schmalen Pfad hierher beobachtet. Tapferkeit ist dir eigen …  und guter Mut. Deine geschundenen Hufe und dein zerzaustes Fell zeugen von spitzen Steinen, von Stacheln und von Dornen. Das hier ist ein Kreuzweg, ein Scheideweg, Faustinus!
Und du wirst dich bald entscheiden müssen wie Herakles.
Willst du weiter wandern? Oder doch lieber weichen – und in der Hauptstadt zum Wolf werden?
Schämen brauchst du dich nicht dafür. Denn Scham passt nicht mehr in die  Zeit. Längst ist sie dahin wie der Anstand. So manches Schwein ist schon zum Wolf geworden und auch mancher Esel. Du wärst nicht der erste, der die rückwärts gewandte Metamorphose schafft, der neue Untugenden findet und neue Farben.
Der Fuchs, mit dem ich dich habe reden sehen, hätte dir das alles auch sagen können. Doch er behält seine Weisheit, die eigentlich nur Lebensschlauheit ist, für sich und die Seinen.
Nur wir Vögel der Lüfte sind wirklich frei und wahrhaft selbstlos. Wahrheiten schenken wir so dahin, auch ohne Lohn.
Großzügig sind wir und niemandem unterworfen.
Die Wölfe haben keine Macht über uns. Wir stehen jenseits von Zeit und Gerechtigkeit, aber auch von tierischer Gewalt und menschlicher Bosheit.“
Faustinus hörte den ernst gemeinten Vortrag mit offenem Mund und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er fühlte, dass hier ein wirklicher Philosoph sprach, einer der ausreichend und tief über das Sein in der Zeit nachgedacht hatte, einer, der Nutzen für das Leben daraus zog.
Es war wohl die erhabene Natur selbst, die hier zu ihm redete - ein göttlicher Wille, der den Raben an diesen Ort und über alle allzutierischen Probleme des Alltags gesetzt hatte, um Auskunft zu geben, wenn ratlose Flüchtlinge und Unbehauste anfragten?
„Gibt es denn auch Tiere, die jenseits des Stromes leben?
Und herrscht dort himmlische Harmonie und Segen?“
fragte der kleine Esel neugierig und nachdenklich zugleich, als ihm bewusst wurde, das die angestrebte Glückseligkeit noch unerreichbar fern zu sein schien.
„In der Tat“,
 krächzte der Galgenvogel.
„Auch auf der anderen Seite des Stromes fristen Tiere ihr karges Dasein. Doch mehr nebeneinander als in trauter Eintracht. Gerade herrscht Waffenruhe. Doch die Stille ist trügerisch. Bereits ein zufälliger Funke  kann die Hölle auslösen und einen alles zersetzenden Bürgerkrieg, der noch verheerender ist als jener im Schlachtfeld, weil er die Seelen tötet und das Vertrauen der Brüder. Schnell kann daraus ein Krieg aller gegen alle werden. Obwohl es da drüben jenseits des alten Danubius kaum Wölfe gibt, ist jede Tierart der anderen ein Wolf.
Gottheiten, Farben und Symbole entzweien sie – und ewige Zwietracht.  Jetzt herrscht noch die Lebensphilosophie der Stachelschweine, die sich wärmen, ohne sich zu nahe kommen. Doch wird die Sphäre des Einzelnen einmal durchbrochen, wird die Freiheit beschnitten oder die Würde verletzt, dann gibt es wieder Krieg, wilden zerstörerischen Krieg. Die Menschen haben es den Tieren vorgemacht in ihrer Evolution  – doch auch die Tiere sind noch nicht viel vernünftiger als die späten Menschen. Es ist halt nichts mit der Creatio perfecta …“

Der Rabe seufzte wie einer, der immer optimistisch blieb, obwohl die Welt von Negativität erfüllt war. Der Geschichte zusehen, war nicht immer angenehm.
Höheres Leben heißt Kampf. Kampf aber bedeutet Vernichtung. Und Destruktion bedeutet, Kummer, Leid und Tränen. Am Ende der Kette warten meist nur Orkus und Hades, Schmerz und Tod. Das wusste der Rabe; er sagte es aber nicht trotz aller Desillusion, weil jungen Aufstrebenden die Lebenshoffnung nicht genommen werden soll, noch bevor sie richtig begründet wurde.


„Danke – für die erhellenden Worte“, murmelte Eselchen Faustinus höflich bevor er schied, senkte sein Haupt und trottete dann müde davon, ohne die aufkommende Resignation ganz verbergen zu können.
„Gute Reise – und viel Glück auf allen deinen Wegen“ krächzte ihm der Rabe schwach hinterher; er sah nicht viel Gutes, wohl wissend, dass hohen Erwartungen bittere Desillusionen folgen werden. Dann senkte er die Lider und verhüllte sein adlergleiches Antlitz im schwarzen Federkleid, so als ob er von der Welt künftig nichts mehr wissen wollte.




Copyright: Carl Gibson

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