Montag, 6. Dezember 2010

„Lieber rot als tot!“ - „Lieber tot als rot!“


„Lieber rot als tot!“


Foto: Monika Nickel

Zierbrunnen in der Altstadt von Rottweil.

 
Jetzt lernte ich zudem einen weiteren Typus kennen, den „Regional-Existenzialisten“, der zwar seine „deutsche Identität“, die im Grunde eine „schwäbische“ war, gefunden hatte, eine regionale immerhin, der aber bereit war, seine „geistig weltanschauliche Identität“ aufzugeben, ganz nach dem Motto: „Lieber rot als tot!“ Soviel Fatalismus und Resignation als Preis für eine unwürdige Existenz - für die politische Selbstverleugnung auf dem Misthaufen? Da staunte ich nicht schlecht!
So dachten doch die Opportunisten aus der Welt, aus der ich kam!? Die Mitmacher, die Helfer und Helfershelfer, die geistig und mental Prostituierten aus der Dichter- und Schriftstellerkaste, die Geistlichen, die Historiker und Journalisten dort, die Parteilobhudler und Parteimitglieder, Leute, die sich heute nicht einmal schämen, in einer Verbrecherpartei mit anhängender Verbrecher-Organisation „Securitate“ Mitglied gewesen zu sein!
Mit jener servilen, duckmäuserischen Haltung hätte ich auch dort bleiben und „rot werden können“, „rot werden“ nicht nur beim täglichen Blick in den Spiegel. „Doktor Jekyll“ wäre dann irgendwann einmal ausgestorben wie der Negativheld Oscar Wildes „Dorian Gray“ - und „Hyde“, die Bestie, hätte triumphiert. Die „bestia triumphans“ - nicht jene von Giordano Bruno beschriebene - ganz andere triumphierende Bestien waren mir schon begegnet! Und inzwischen hatte das Schreckgespenst „Lieber-rot-als-tot“ gar die Welt der Freiheit erreicht, wie ein blutsaugender Vampir in dunkler Nacht dem heimatlichen Transsylvanien entflohen war?
 War das die existenzielle Antwort auf die Nachrüstung, auf die Raketenstationierungen im unweiten Mutlangen am Fuße der Schwäbischen Alb? Einer meiner Lehrer, der in erster Linie „noch lange leben wollte“, auch unter „kommunistischer Regie nach pawlowschem Muster“, vertrat diese Haltung - und wir diskutierten darüber, kontrovers: „Carl, ich kann Ihnen versichern, wenn es um Sein oder Nichtsein geht, um Leben oder Tod, um ein Überleben unter Kommunisten gleich welcher Nationalität, dann entscheide ich mich für das Überleben.“ Der gute Mann dachte existenziell – Überleben um jeden Preis!? Das machte den Nationalsozialismus möglich – und den Kommunismus weltweit.

„Lieber tot als rot!“


Was der „Hobby-Existenzialist“ da vertrat, ein friedfertiger Bundesbürger, der den Unrechtsstaat DDR wohl noch nie betreten und vom „Eisernen Vorhang“ nur eine sehr vage Vorstellung haben konnte, erschien mir damals als eine theoretisch hergeleitete These, die „meinen existenziellen Erfahrungen“ in der kommunistischen Welt und mit dem Kommunismus profund widersprach. Meine radikale Replik, die auch heute noch Gültigkeit hat, besagte kurz: „Lieber tot als rot!“
Wer den real existierenden Kommunismus konkret erlebt hatte, konnte auch meine Position verstehen. Jeder bewusst „Entsprungene“ aus dem Gelben Elend in Bautzen war der Wahrheit näher als so mancher deutsche Lehrer und Professor in ihren Elfenbeintürmen. Der deutsche Professor, der, von Hegel kommend, die These und die Antithese in seiner sklavischen Rationalität als gleichwertig ansieht, kann nicht darüber belehrt werden, dass zwischen der theoretisch erschlossenen Erfahrung und der existenziell erlebten Erfahrung ein kleiner, aber erheblicher Unterschied besteht. Es lebe der feine Unterschied, meinte Flaubert, vorbei an den Ohren deutscher Gelehrter. Aus der Uneinsichtigkeit aber speist sich das Weltbild des Mannes mit staubender Perücke und hochgelahrter Kehle und seine weit ausgeprägte Kurzsichtigkeit in vielen Dingen, die sich durch kein „existenzielles Zeugnis“ erschüttern lässt. Ist das der tragische Zug deutscher Wissenschaft? Oder verweist es auf die Unbelehrbarkeit des Menschen schlechthin?


Foto: Monika Nickel

Haus mit Erker in Rottweil.



©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.

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