Montag, 6. Dezember 2010

Reife-Prüfung

In Meersburg, am "Schwäbischen Meer".

Foto: Monika Nickel

Fährschiff der "weißen Flotte" auf dem Weg von Konstanz nach Meersburg.


Das Wasser lag in Meersburg vor mir wie ein Meer, manchmal in graue Nebel gehüllt, ein Refugium für Fische, die das Tiefe suchen, aber von Untiefen der menschlichen Seele aufgeschreckt werden. Die Schäbigkeit hat viele Gesichter. Hinter mir thronte auf einer Anhöhe über dem Weinberg unweit der Burg das Neue Schloss - Ihm angegliedert im feurigsten Rot ein Gymnasium, in welchem die Kinder der Region, die nicht in „Salem“ unterkamen, ihre Zeit „unterm Rad“ verbrachten, bis zur Reifeprüfung, um dann vielleicht in der „Stadt des Konzils“ am anderen Ufer des Sees zu studieren.
Für kurze Zeit war ich einer unter ihnen - als bereits „zwanzigjähriges“ Fossil; allerdings nicht in einer regulären Abiturklasse untergebracht, was meiner Wunschvorstellung entsprochen hätte, sondern, „leicht stigmatisiert und ausgegrenzt“, in einem eigens eingerichteten, sogenannten „Sonderlehrgang für Spätaussiedler.“
Die annähernd gleich alten Abituranwärter mit unterschiedlichster Vita und Lebenserfahrung dieses bunt gemischten „Sonderlehrgangs“, der einem Exotenklub näher stand als einer normalen Schulklasse, kamen von überall her: Aus der Banater Hecke und Heide, von den sieben Hügeln Transsylvaniens, aus den schlesischen Kohleregionen und aus den dunkelsten Tiefen des Böhmerwaldes, also aus nahezu allen ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa. Sie alle hatten elf Jahre Schulausbildung hinter sich gebracht und sprachen ein „Deutsch“, das den Bedingungen ihrer Herkunftsländer entsprach. Dabei gab es zum Teil krasse Unterschiede. Die sprachlich kaum diskriminierten Jugendlichen aus dem rumänischen Teil des Banats und aus Siebenbürgen artikulierten sich in ihrer Muttersprache auf beachtlichem Niveau, während die Mitschüler aus Polen und der Tschechoslowakei, wo deutsche Sprache und deutsche Kultur weitgehend „verboten“ waren, mit kleineren Artikulationsproblemen zu kämpfen hatten.
Aus den „sprachlichen Unzulänglichkeiten“ machte einer unserer „Vorgesetzten“, der zumindest in meinen Augen kein wirklicher Lehrer war, bald „einen Fall“ - einen Kasus, der für mich, den Nichtbetroffenen, noch nachhaltige Konsequenzen haben und meine Idylle am Bodensee beenden sollte.
Wer die Systeme wechselt, wie ich es tat, wer sich bewusst von Pseudowerten absetzt, weil er an andere glaubt, der beobachtet genau, was er auf dem Weg zu neuen Wahrheiten und Freiheiten vorfindet. Bereits früher hatte ich meine Lehrer ziemlich genau beobachtet, nicht nur den Gaukler Theophil. Also studierte ich jeden einzelnen Pädagogen auch jetzt, in Deutschland angekommen, vielleicht noch erwartungsvoller - und zwar als Mensch, als Persönlichkeit, als Mentor und als Vorbild. Wo das sozialistische Bildungssystem versagt hatte, weil es zynisch und inhuman war, erwartete ich ein kompensierendes Gegengewicht klassisch humanistischer Ausbildung als Teil meiner hohen Gesamterwartungen an das demokratische System des Westens. Molière, La Bruyère und Balzac hatten mir die Vorlagen geliefert, Muster der Psychologisierung, die ich nur anzuwenden hatte. Auch hier am Gymnasium in Meersburg fand ich sie vor: „Typen und Charaktere“, nicht anders als jene bereits beschriebenen „auf der niedersten Etage der Menschheit“ im Knast.
Da war der Englischlehrer; ein in Studien ehrenhaft ergrauter Charakter, aus dessen Gesicht kontinuierliche Freundlichkeit strahlte. Als Kriegsgefangener in den Vereinigten Staaten war er erstmals mit der englischen Sprache in Berührung gekommen, hatte Freude an ihr gefunden und einen Beruf aus ihr gemacht – aus Berufung. Die Gefangenschaft und das konkrete Erleben der Unfreiheit hinter Stacheldraht verbunden mit einer neuen Perspektive hatten ihn zum humanen Menschen geformt. Er blieb es auch als Lehrer und gab vieles von seinem Wissen an uns weiter.
Auch der Biologielehrer war ein Charismatiker und sein Fach: Die Lehre vom Leben Meersburg hatte er dem berühmten „Salem“ als Wirkungsstätte vorgezogen, weil er die relative Freiheit zu schätzen wusste, die es in dem stockkonservativen Salem, wo andere Sitten herrschten, wohl noch nicht gab. Begeistert erzählte er uns von der kulturhistorisch einzigartigen Schlossanlage, von den Bildungseliten in ihren Mauern, die Oxford und Cambridge nacheiferten, aber auch von seiner „Zeit im Zwang“, fern der Freiheit von Forschung und Lehre. Manches gemahnte dabei an Hermann Hesses Bericht aus dem Kloster Maulbronn, nur diesmal aus der Sicht des Lehrers betrachtet. Leidenschaftlich und mit großer Hingabe sprach der Biologe über die Mendelschen Gesetze wie über die Drosophila, über den Genetischen Code und über die Doppelhelixstruktur der Desoxyribonukleinsäure, immer temperamentvoll mit Geist und Witz.
Der Dritte im Bunde, ein strammer, hochgewachsener Junglehrer aus der Region, unterrichtete meine Lieblingsfächer Geschichte und Gemeinschaftskunde, also politische Wissenschaft und Soziologie auf Schulniveau. Mein Verhältnis zu ihm war von einer unmittelbaren Sympathie bestimmt, die auch erwidert wurde. Er stand mir gefühlsmäßig näher als seine Kollegen, weil uns eine geistig-weltanschauliche Verwandtschaft verband und weil auch er ein deutscher Patriot war, der aus seinen Gefühlen kein Hehl machte. Als christlich konservativer Charakter blieb es ihm nicht verborgen, wer unter den Schülern ähnlich empfand. Er fühlte die intuitive Nähe - und dies mit Genugtuung.



Foto: Monika Nickel

Abendstimmung am Bodensee bei Meersburg.



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