Montag, 6. Dezember 2010

Paradies mit Tücken - Meersburg am Bodensee - Ost-West- Geschichte(n)



Carl Gibson,
Philosoph,
freier Schriftsteller
(Mitglied in Verband deutscher Schriftsteller (VS)
innerhalb der Gewerkschaft
ver.di


 

Ost-West- Geschichte(n) -

Aus dem Tagebuch eines Andersdenkenden Meersburg am Bodensee


Foto: Monika Nickel

Das "alte Schloss" in Meersburg -

hier lebte und wirkte die Dichterin
Annette Freiin von Droste-Hülshoff.

 

 

Paradies mit Tücken - Meersburg am Bodensee


Als ich wenige Monate nach meinem Eintreffen in der Bundesrepublik bereits im Januar 1980 die Abiturvorbereitungen aufnahm, war die „Welt der Einreisenden“ noch in Ordnung. Die wenigen „Aussiedler“, „Spätheimkehrer“ und „ehemaligen politischen Häftlinge“, wie ich einer war, wurden noch mit offenen Armen empfangen. Wir waren willkommen. Das fühlte ich. Alle „Neubürger“ wurden gut untergebracht und adäquat versorgt. Für die wenigen unter den jungen Auslandsdeutschen, denen der Weg zur Hochschule geebnet werden sollte, insofern die Voraussetzungen stimmten, schien das Beste gerade gut genug, auch im Schulischen.
Mich verschlug es seinerzeit in das malerische Meersburg, am Bodensee, in jene alte Bischofsresidenz, in deren Schlossmauern bereits die „Droste“ ihre berühmten Verse ziseliert hatte, mit zarter Hand und empfindsamer Seele; an jenen „Locus amoenus“, von dessen Ufern aus bei klarer Sicht der Schnee der Alpengipfel greifbar nahe scheint - und der Blick im milden Blau des Nebeldunstes zerfließt.
Das war eine schöne Geste des Vaterlandes und des Bundeslandes Baden-Württemberg, eine kleine Kompensation für die durchlittene Zeit im Grau des Sozialismus, dessen Wohltaten einige von uns intensiver genießen durften als andere. Die goldene „Welt des Kapitalismus“ präsentierte sich mir von Anfang an im Schönen Schein. Fast hätte ich hinter den tausendjährigen Wänden der Burg aus dem siebenten Jahrhundert, der ältesten in Deutschland, mein erstes Domizil am See aufgeschlagen. Die Möglichkeit, dort einzuziehen, bestand. Nur kamen mir Bedenken, dümmliche Bedenken. Konnte man in diesen Gemäuern heute noch leben, auch im Winter, ohne zu erfrieren? Noch bevor die Frage beantwortet war, bot sich mir eine „komfortablere“ Unterkunft an, in einem „besseren Haus“ bei „besseren Leuten“. Die neue Bleibe lag vornehm in einer Villenstraße am Ortrand von Meersburg in Richtung Überlingen zwischen Waldrand und See. Im Blickfeld: das Schwäbische Meer mit der Insel Mainau und der Stadt Konstanz am anderen Ufer. Eine Idylle.
Die Herren im Herrenhaus: Gutbürgerliche Leute, so schien es, human, altruistisch und konziliant bis zu dem Tag, als mir, dem frivolen Naturburschen, eine Prise Kochsalz verweigert wurde, als ich, hungrig von Tage, schnell mal eine Suppe hatte aufsetzen wollen. Ein Sakrileg!
Naiv, noch vom unerschütterten Glauben an die christliche Nächstenliebe geleitet und von unmittelbarer Natürlichkeit bestimmt, hatte ich um diese materielle Nichtigkeit gebeten, ohne das „non licet“ zu beachten: In der Tat: Eine Ungeheuerlichkeit!
Die Dame des Hauses, recht bieder auftretend, sonst aber unscheinbar, deren intellektuelle Leistung überwiegend darin bestand, täglich den Dackel auszuführen und die drei Dutzend in Volieren gefangenen Wellensittiche zu füttern, reagierte auf meinen frommen Wunsch mit einem zur Raison rufenden Gefühlsausbruch der Entrüstung, was mich zutiefst schockte und auf Distanz gehen ließ. Wochen danach brach das „Kartenhaus fiktiver Werte“ endgültig in sich zusammen, als sich herausstellte, dass der werte Hausherr, ein stammelnder, vermutlich schon vom „Schlag gerührter“ Finanzjongleur, unter Verwendung meines „integren Namens“ im nahen Fürstentum Liechtenstein Immobilientransaktionen tätigte und Finanzgeschäfte abwickelte. Nicht mehr und auch nicht weniger als stolze zwanzig Tausend Deutsche Mark wollte das Finanzamt von dem gerade erst Eingereisten, Steuernachforderungen an einen Schüler, der vom staatlichen Stipendium lebte!? Aus mir, dem kapitalistisch noch Unerfahrenen, war ohne mein Hinzutun ein Strohmann geworden, ein Handlanger für krumme Geschäfte - ein Objekt.
Die Fassade bröckelte … und der Schöne Schein verflog. Fürst Potjomkins Erben – auch hier? Die neunköpfige Hydra Heuchelei hatte scheinbar auch den Bodensee erreicht und gut Fuß gefasst. Materialistische Chamäleons verbreiteten sich an allen Ufern, über die prüde Schweiz hinaus bis unter die Burg von Vaduz. War das erste Kapitel meiner „Idylle am Bodensee“ nun zu Ende? Gab es noch Geister hier am See? Irgendwo in einer Stube unweit der einst freien Reichsstadt Überlingen saß Martin Walser und hielt dagegen. Sein heute nicht mehr ganz so bekannter Namensvetter Robert Walser, ein Bewunderer Lenaus, war bereits vor vielen Jahren jenseits des Sees im Schnee seiner Berge erstarrt.


Foto: Monika Nickel

Am "schönen Ort" -
Das "neue Schloss" in Meersburg am Bodensee,
rechts im Bild:
das Aufbaugymnasium mit Heim.





©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.


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