Montag, 5. September 2011

Ein Blick ins Ghetto





Wieder trottete der keine Esel von dannen, nur mehr zuversichtlich als traurig. Der Enthusiasmus des Aufbruchs war wieder da. Für Augenblicke hatte er sogar vergessen, dass die Prätorianer des Wolfsstaates hinter ihm her jagten, um ihn in Ketten zu legen und ihn zu Dingen zu zwingen, die sein freier Geist ablehnte. Das Schuften an der Mauer oder am Kanal konnte ein schnelles Ende bedeuten. Und dabei war er noch so jung. Das Leben pulsierte in seinen Adern.



Der Wels hatte ihn vor dem sicheren Tode bewahrt und in ihm das bestärkt, was er selbst schon gefühlt hatte. Die Suche nach dem eigenen Gral musste unbedingt weitergehen, auch wenn noch einige Tränen zu vergießen waren. Eigentlich war er nicht besser dran als Lohengrin oder Tannhäuser auf ihrem Heilsweg!
„Ach, wenn ich nur eine Harfe hätte und eine Leier oder die Flöte des Pan, um mir die Einsamkeiten zu vertreiben und die finsteren Gedanken, die wieder kommen, wenn sich der Himmel verdunkelt und wenn es Nacht wird auf der Welt“,
jammerte der zarte Faustinus. Melancholische Heimsuchungen drohten überall – und kein Mophostophiles war da, der ihn aus dem Dunkel herausriss und ihm die Bahn ausleuchtete.
Es wurde ein einsamer Gang, den er ging, ein enger, selbst auszutretender Pfad mit wenig Rosen und vielen Dornen am Wegrand. Dem Lauf des Stromes folgend, bahnte er sich seinen eigenen Weg durch ein fremdes Land, in welchem überhaupt keine Artgenossen anzutreffen waren. Das machte ihn noch einsamer.
Was war aus den Eseln geworden?
Als Konquistadoren hatten sie einst diesen Landstrich erobert, waren sesshaft geworden und hatten die sieben Hügel dann im Schweiße ihre Angesichts urbar gemacht, mit der Axt in der Hand und hinter dem Holzpflug.
Und jetzt? Starben die Esel langsam aus, hier unter den Wölfen?


Wohin Faustinus auch blickte, sah er gedrückte und gebückte Viecher, die von grimmigen Jägern und Kriegern zur schwersten Fronarbeit  angetrieben wurden. Arbeiten war Pflicht im Staat der Wölfe.
Und wer nicht arbeitete, sollte auch nichts essen. Auf diese Art wurden Festungen errichtet und Basteien ausgebaut, Bollwerke aller Art, auch innerhalb der großen Mauer. Landein und landaus entstanden Schutz- und Trutzburgen, Bunker und Wachtürme aus festem Stein. Vielleicht würde es bald wieder Krieg geben?
Wenn die große Entscheidungsschlacht anstand, mussten die Wälle halten und dem Ansturm von Vandalen und Barbaren trotzen wie die Dämme und Deiche der tosenden Flut. Jenseits des Limes lauerten die Feinde der Zivilisation und des Fortschritts, Hunnen und Mongolen, allzeit bereit, loszuschlagen und ihre ehernen Kettenfahrzeuge rollen zu lassen bis zum Endsieg. Also sicherten die Wölfe ihren Frieden, indem sie sich auf einen großen Krieg vorbereiteten.
Seitdem der Führerstaat im Ausbau begriffen war, lebte selbst das Staatsvolk in Angst und Schrecken. Horror und Terror waren effiziente Mittel der Machterhaltung nach innen und der Friedenssicherung nach außen. Das lehrte die Geschichte. Früher war es der legendäre Werwolf, der die eigenen Untertanen brav in den Höhlen hielt. Heute waren es die Mittel der Repression, die sie zahm machten und zu Sklaven domestizierten. Nicht nur Ochsen und Esel hatten sich zu fügen, sondern auch das eigene Volk - Wölfe, Kampfhunde, Schakale, Hyänen und jene seltsamen Paarungen zwischen Vielfraß und tasmanischem Teufel, die man auf den Straßen antreffen konnte. Sie alle senkten den Schweif, wenn Prätorianer auftauchten. Denn das gebeugte Haupt wird von Schwert verschont, lehrte ein Sprichwort aus jener Region.
Draußen vor der Tür schreckten andere Hannibals, solche und solche. Truppen marschierten auf. Auf einem Hügel im Osten formierten sich die grimmigen  Bären in brauner und schwarzer Rüstung. Ungeachtet aller ideologischen Nähe,  galten sie als die historischen Gegner der Wölfe, als wahre Erbfeinde, von denen nichts Gutes zu erhoffen war. Auf der anderen Anhöhe im Westen weit überm Tal traten die Gänsegeier an, die Steinadler und Falken, alle in Waffen und bereit, mächtig loszuschlagen, um zu siegen, um zu unterwerfen und um neuen Lebensraum zu gewinnen – für die eigene Art und für das Übertier.

Eselchen Faustinus hatte von seltsamen Bündnissen raunen hören, von einem Pakt zwischen den Räubern der Lüfte und den Bären, der die Teilung der künftigen Beute regelte und die Zukunft der zu Unterwerfenden in friedlicher Assimilation. Er hielt seine Nüstern in den Wind und schnupperte. Ja, Krieg lag in der Luft, ein kalter Krieg, der aber bald sehr heiß werden konnte.
Ein Kesseltreiben hatte es bereits erleben müssen in jener Bartholomäusnacht. Folgte bald die ganz große Schlacht?
Was wurde aus den Eseln, wenn es bald Krieg geben würde, wenn das große Schlachten losging?
Friedfertig und stets auf Harmoniebedacht war Eselchen Faustinus in die Welt aufgebrochen. Jetzt stand er vor einer Spaltung, die sich durch die Köpfe zog und durch die Nationen.
Einst, als die Gedanken noch frei waren in Land der Wölfin und jedermann noch frei aussprechen durfte, dass ein Esel und ein Wolf zwei grundverschiedene Tiere sind, hatten sich im Staat der Grauen zwei Ideologien herausgebildet, verwandte Weltanschauungen des Heils, die kaum voneinander zu unterscheiden waren. Irgendwann huldigte dann eine Hälfte der Untertanen dem internationalistischen und kosmopolitisch angehauchten Ursismus, während die andere Hälfte der Staatsbürger dem eher nationalistisch orientierten Lupismus zuneigten. Der protestierende Asinismus, zu dem sich seit je her die wenigen Esel  Siebenbergens bekannten, war – wie andere Religionen seltener Tiere - praktisch bedeutungslos geworden.
Seitdem sich die Braunbären mit ihrer schwarzen Artgenossen verbündet hatten und dann in ganz kurzer Zeit unter der Führung eines überbestialischen Leitbären zu einer starken Nation aufgestiegen waren, zu einer politischen Macht, die die gesamte Stabilität der Tierwelt bedrohen konnte, verschob sich auch das Gefüge der rivalisierende Ideologien. Nach dem Willen der Bären sollte ihre Weltanschauung, der allen anderen Denkrichtungen überlegene Ursismus, fortan zur Weltideologie erhoben werden. Das schmeckte den Wölfen, die selbst die Lehre vom Willen zur Macht verinnerlicht hatten, überhaupt nicht. Für sie zählten nur die Prinzipien des Lupismus, dessen Wurzeln sie in prähistorischen Zeiten ausgemacht hatten.

Auf der Weiterreise durch das schöne Land sah Faustinus noch manches, was ihn traurig stimmte. Er erkannte das Leid der geknechteten Tiere, die nur noch arbeiteten, um zu überleben. Von freudiger Arbeit und von Lebensfreude war nichts zu vernehmen. Gelegentlich machte er Halt und sah den arbeitsamen Tieren bei ihren Tun zu. Teils mit den Augen des Forschers, teils in kontemplativer Anschauung, beobachtete er, wie die fleißigen Tiere den Mais und die Rüben pflanzten, wie sie auf Knien das Unkraut aus den Fluren zupften, wie sie emsig hackten und gruben, wie sie laut hämmerten und meißelten, wie sie mauerten und bauten. Das Eselein stellte fest, wie die Vielen in gemeinschaftlicher Arbeit dafür sorgten, dass Nahrung für alle da war, auch für diejenigen, die nur dachten, lenkten, leiteten und die Arbeitenden kontrollierten.


Als Faustinus an einer Schule vorbei kam, wurde er auf eine Pionierfeier aufmerksam, die im Schulhof abgehalten wurde. Viele Jungwölfe und Kampfhunde hatte sich im Karree versammelt. Rote Krawatten zierten ihren Hals. Die rote Flagge mit dem heulenden Wolf vor dem Mond war gerade gehisst worden. Und ein kleines Schäferhündchen, aus dem bald schon ein Leittier werden sollte, stand auf einem Podest und rezitierte das Gedicht von dem Hamster und der Biene: Was mühst du dich denn so unverdrossen für andere, liebes Bienchen? Fragte ein Hamster im Gedicht.

Das Bienchen sprach von einer Blume:
Ich schaffe für mein Volk und mich,
Mein Volk lebt durch mein Bemühen,
Und durch mein Volke lebe ich!

Die Wölfe waren gerade dabei, ihre Staatsbürger in Gute und Böse aufzuteilen. Wer durch Tat und Vorbild der im Aufbau begriffenen Gesellschaft des Lichts nützte wie die Honigbienen, zählte zur ersten Kategorie Tier, während andere, die den Blick von der Realität der Wolfswelt abwandten, ihrem Egoismus frönten oder der Anarchie, zu Untertieren erklärt und bitter verfolgt wurden.
Untertiere wie der Hamster, der, fern von der Kontrolle der Wölfe im Erdreich lebte, die Mäuse aus Feld und Wald, die Wanderratten und der Floh, die nicht mehr brachten als Pest und Cholera, waren praktisch vogelfrei und zum Abschuss frei gegeben. In der Regel wurden sie eingefangen und so lange zur Zwangsarbeit auf den Baustellen des Landes verpflichtet, bis sie kümmerlich eingierigen. Der Weg zur tierischen Gesellschaft war hart. Und nur die Besten und Stärksten sollten am Ziel ankommen.


Als Faustinus dann wieder durch die wüste Steppe schritt  und nichts sah als lebensfeindliche Natur, kamen ihm die moralisierenden Worte wieder in den Sinn. War er denn selbst eines jener arbeitsscheuen Elemente, für welche die Wolfsgesellschaft keinen Raum hatte?
War er ein so genannter Parasit der Gesellschaft wie der Hamster, ein schnöder Egoist, der nur an sich selbst dachte, und nicht an das Allgemeinwohl? Leider war das oft Interpretationssache, denn die wenigen Paragrafen des Führerdekrets waren biegsam.
Für Artisten und Lebenskünstler aller Art, für Andersdenkende, für Querulanten und Ketzer und vor allem für Anarchisten, die jede Staatsgewalt ablehnten, hatten die Wölfe große Sammellager eingerichtet, richtige Arbeits- und Vernichtungslager, in welchen die Parasiten konzentriert und eben wie Parasiten behandelt wurden.

Wer die Volksgemeinschaft schädigte wie Hamster, Ratten und Mäuse, das hatten die Wölfe sich von weitsichtigen Eseln längst abgeschaut, musste ausgemerzt werden wie das Unkraut in den Fluren. Das schlechte Kraut und die Feinde des Vaterlandes, davon redeten bereits die Dichter in der Reigen, mussten vergehen, wenn einst  Harmonie aufkommen sollte.
Ein schriller Nachklang hallte durch das Eselsohr, als Faustinus sich an die Botschaft des patriotischen Reigens erinnerte. Die Umwertung aller Werte und der Wille zur Macht schienen gar im Einklang mit den Gesetzen, die die Natur vorgegeben hatte. Selektion, Zucht und Züchtung … Schauder kam auf und der Geruch vom geröstetem Fleisch des Scheiterhaufens.
Auf der Zunge spürte Faustinus etwas Bitterkeit, die wohl vom Sand herrührte, der durch die Luft gewirbelt wurde. Die Wüste war plötzlich wieder da – mit allen Schrecken der Wüste. Das Ödland um ihm herum erschien ihm gar noch schrecklicher als die heiße, keusche Wüste, obwohl der Landstrich vom großen Strom umflutet wurde und dann und wann Auen auftauchten und bedrohliche Sümpfe.
„Ein gottverdammtes Land ist das“, stöhnte der Geplagte.
„Meinen Todfeind würde ich nicht hierher verbannen, denn dieser Sumpf hier mit den vielen Stechmücken, die alle Kreatur bei Tag und Nacht quälen, ist noch unerträglicher als die Hölle!“
Dante bot jetzt keinen Trost.

Als er so dahin schlenderte, ohne recht zu wissen, ob er nicht für immer anhalten sollte, gewahrte Faustinus einige verfallene Schuppen, die fern an die heimischen Stallungen erinnerten. Im fernen Sylvanien war so gebaut worden, schlicht, aber praktisch. Dann sah es einige Holzkreuze am Wegrand, die vor sich hinfaulten. Wind und Wetter hatten sie gebeugt. Ein paar kleinere Kreuze erinnerten daran, dass hier auch manches junge Tierlein verendet war, während die verwaschenen Namen auf den schiefen Brettern verrieten mehr verrieten. Faustinus hatte Mühe die Inschrift zu entziffern. Mit Grausen und heißerer Stimme las er …  Geboren in Eselhausen bei Eselsburg - gestorben im Baragan!
Baragan?

Ein Schreckenswort aus der entrückten Kindheit. Den Hades hatten die Alten Sylvaniens so genannt. Es waren die eigenen Verwandten, deren Schicksal sich hier vollendet hatte, unschuldige Pogromopfer, die für das leiden und sterben mussten, was ein paar Wahnsinnige des eigenen Geschlechts angerichtet hatten.
Verrückt gewordene Esel hat ihm Wahn zur Sonne gegriffen und dabei einen Weltenbrand entzündet, der jetzt auf alle Esel zurückfiel – und für ewige Zeiten vielleicht, auf die Esel als Volk von Genies und Narren. Aischylos, Sophokles und Euripides hätten keine Worte gefunden, um das zu umschreiben, was Faustinus gerade fühlte.
„Allmächtiges Schicksal“, rief er aus, „du hast mich mit dieser Last in diese Welt geworfen. Was kann ich anderes tun, als diese Last heroisch zu tragen und dich, Gottheit, dafür noch zu lieben.
Fatum, ich liebe dich wirklich und innerlich, sonst müsste ich es unter Tränen doch tun!
So klagte Eselchen Faustinus in Sympathie mit dem eigenen Volk und dem eigene Leiden, einen schweren Gedanken denkend.
„Hoffentlich bleibe ich vom schwersten aller Gedanken verschont, den ich zwar denken kann, aber nicht reell erleben will – die ewige Wiederkehr des Gleichen!“
Als Faustinus die läuternde Einöde wacker durchschritten hatte und wieder in dichter bewohntes Gebiet kam, sah er noch mehr vom Alltag der zum Glück verdammten Tiere im Staat des Lichts. 


Betroffen beobachtete der Wanderer, wie viele seiner großen und kleinen Mitgeschöpfe mehr gezwungen als freiwillig ihrer Aufbauarbeit nachgingen; wie sie in Minen nach Erz wühlten, dieses dann in kleinen Hochöfen zu Eisen und Stahl schmolzen,  wie sie es  in finsteren Manufakturen schmiedeten, um Dinge zu erzeugen, deren höherer Sinn sich ihm noch nicht ganz erschloss? Oder doch?
Es waren Waffen und andere Instrumente, doch nicht um Leben zu retten, sondern um zu töten. Mit Grausen sah Faustinus, wie Gitterstäbe zusammengeschweißt wurden, wie Ketten gemacht wurden in vielen Formen für alle möglichen Zwecke.
„In welcher Welt leben wir eigentlich“, fragte er sich entrüstet.
„Was ist aus der Freiheit geworden und den Rechten aller Tiere?
An der große Brücke angekommen, der einzigen, die über den Strom führte, fühlte Faustinus auf einmal große Lust, den Gesichtskreis zu erweitern und einen forschenden Blick ins Nachbarland zu riskieren, von dessen Freiheiten ihm Tiere berichtet hatten, die einst als Handelstreibende auch durch Concordia gestreift waren.  Wie gern hätte er Einblick genommen in andere Lebenswelten, wo das Glück der Vielen wahrscheinlicher und gewiss vollkommener war als hier unter den Wölfen. Die Nachbarn jenseits der Donau, die zu unterschiedlichen Göttern beteten und sich deshalb nicht immer grün waren, lebten in ihrem Reich zwar nicht im selig machenden Miteinander, aber doch immerhin in relativer Freiheit lebten, die es ihnen ermöglichte, überall hin zu gehen, wohin sie wollten.
Ihr angestammtes Recht, das eigene Vaterland jederzeit verlassen und auch jederzeit in dieses zurückkehren zu dürfen, war den Tieren dort noch nicht abgesprochen worden. Also mussten sie schon deshalb glücklicher sein als alle anderen Tiere hinter dem verletzenden Stacheldraht und der undurchlässigen Mauer, kombinierte Faustinus kritisch. Selbst der weise Rabe hatte diese Illusion nicht zerstört, indem er die volle Wahrheit verschwieg. Rücksichtsvoll wie er war, hatte der weise Seher darüber hinweg gesehen, dass auch jenseits des Stromes eine starke Hand das Chaos steuerte; und dass der Friede unter den so unterschiedlichen Geschöpfen nur künstlich war und zerbrechlich. Wenn der Druck auf den der Büchsendeckel abnahm, wenn der Korken platzte, das wusste der Rabe wohl, dann emanzipierten sich die Geister – sie wanden sich durch den engen Flaschenhals wie der Dschin und stoben dann davon, um ihr unheilvolles Werk zu vollenden. Einmal entfesselt, konnte kein noch so geschickter Zauberer sie wieder zurück rufen, bannen, einsperren! Übermächtig geworden zersetzten diese Ungeister alles Gute und Friedliche, sie hetzten und spalteten sie bis zum Krieg, zum schlimmsten Vernichtungskrieg. Pandora und Aladin hatten diese Erfahrung machen müssen. Doch all das noch folgende Unheil an der Donau sah Faustinus noch nicht. Die Hoffnung war noch stark in ihm.
Brücken verbinden – das hatte es einmal vernommen. Das galt für Menschen und für Tiere. Der Wolfstribun am Brückenaufgang dies etwas anders.
„Du darfst hier nicht passieren, Eselchen“,
stoppte ihn der Prätorianer höflich, doch bestimmt. Die strikten Anweisungen verboten das Betreten der Brücke. Ganz egal ob Wolf oder Nichtwolf. Wer das Territorium des Wolfsstaates verlassen wollte, benötigte eine Sondergenehmigung des Außenministers oder gegen entsprechendes Entgelt einen gültigen Reisepass.
Also war dies doch keine echte Brücke, sondern nur eine Sackgasse – und er war wieder einmal auf dem Holzweg. Was blieb Esel Faustinus weiter übrig, als sich in sein Los zu fügen. Einsichtig vollzog die Kehre und trabte dann fatalistisch weiter, um endlich das blaue Meer zu sehen- die Unendlichkeit!




Copyright: Carl Gibson

Der Wels



Keine Meerjungfrau redete plötzlich zu ihm, keine Nymphe und keine verführerische Sirene, sondern ein Fisch, ein ferner Verwandter jenes Butts aus dem Märchen, der Wunder wirkte und Hybris bestrafte!
Und dabei hatte Faustinus immer geglaubt, Fische seien stumm!
Der mahnende Schutzengel aus der Tiefe kam in der Gestalt eines uralten Welses mit Schnurrbart, den man in der Abenddämmerung mit jenem Wal hätte verwechseln können, der Jonas ins Leben zurückgeworfen hatte.
Ja, die dahin strömende Zeit oder Poseidon selbst hatten den Waller vermutlich im Strom vergessen und ein kleines Seeungeheuer aus ihm gemacht. Kein Fischernetz hatte je seiner Kraft widerstanden. So war er alt geworden, mild und weise:
„Hat die gütige Sonne dein Bewusstsein getrübt, Eselchen?“
rügte ihn der Wels.
„Was versprichst du dir davon, hier zum Grund zu sinken. Da unten in der Tiefe ist es dunkel und kalt.
Ein Esel kann dort nichts erkennen!
Auch überleben wird er bei uns kaum!
Bleib’ deiner Erde treu, graues Langohr, rate ich dir. Denn streben kannst du nur, solange du lebst!“
Der beim feigen Davonschleichen aus Leben und Verantwortung ertappte Waldesel wankte verblüfft zurück. Die Erde hatte ihn wieder – und er  schämte sich.
Heroisch wäre das doch nicht gewesen, was er gerade vorhatte? Auch ritterlich nicht, noch edel! Bei genauerer Betrachtung wurde Faustinus bewusst, was ihm fast unterlaufen wäre:
eine Eselei, eine besondere Eselei!
Das Gefühl hätte ihn fast verleitetet und in die Irre geführt, nicht letztes Erkenntnisstreben! Eine kurze Sinnestäuschung wäre ihm zum Verhängnis geworden. Er, der konsequente Rationalist, der vernunftbegabte Waldesel aus Siebenbergen, wäre fast der Emotion zum Opfer gefallen, einer Laune, einer eine Gestimmtheit. Um ein Haar hätte ihn die Verzweiflung mitgerissen; ihn, einen heiligen Esel, ein anbetungswürdiges Geschöpf, das von der großzügigen Natur doch auch mit einem prächtigen Verstand ausgestattet worden war.
Und ein sprechendes Seeungeheuer aus den Untiefen der Zeit musste ihn zur Räson rufen; ihn zurückwerfen in die Existenz wie einst der biblische Wal einen anderen armen Sünder!
Allmählich klärte sich Faustinus Bewusstsein wieder – die Einsicht kam zurück und der kritische Eselsverstand. Faustinus erkannte den Frevel, seine Hybris, jenen fatalen Übermut, der ihn schier das Leben hätte kosten können.
Jede Aussicht auf künftige Erkenntnis wäre tatsächlich für immer dahin gewesen – jedes künftige Glück und jede Lebensfreude. Das alles sah Faustinus jetzt ein. Und diese Einsicht war ein gutes Mittel, doch noch eine Weile dem Lauf des Lebens zu zusehen, es mit zu gestalten, um so zu erfahren, wie es weiter ging auf dem Planeten Erde und hoch oben im Himmel sowie in den Untiefen des Universums, dessen Galaxien noch so unerforscht waren wie die Dunkelheit auf dem Grund der Ströme. Meere und Ozeane.
Vielleicht wurden neue Sterne geboren, die noch wilder funkelten als der eigene Leitstern dort, den Faustinus schon aus den Augen verloren hatte! Vielleicht tauchte ein strahlender Komet am Firmament auf … mit neuer Spannung - Lust und Lebensfreude, die leibhaftige Liebe des sublimen Eros hinter der abstrakten Liebe zur Wahrheit?
Und vielleicht winkte hinter allem am Ende gar das große Glück in Ewigkeit?
Wahrscheinlich war das nicht, doch immerhin möglich.
Und ein spekulierender Metaphysikus, folgerte Esel Faustinus, erschließt alles Mögliche im Denken.
Wenn Fische redeten, das wusste Faustinus bereits aus dem trefflichen Märchen von dem Fischer und seiner Frau, das er in seinen Reflexionen über Hybris unzählig oft wieder und wieder gelesen hatte, dann ging es um Augenmaß, um bestrafte Verstiegenheit und um rechtes Wollen, hinter welchem immer ein gesunder Eselsverstand vermutet wurde. Also gab er seine Vermessenheit gerne zu.
„Wie beneide ich euch, Fische. Ihr lebt ihm kühlen Grunde, im geschmeidigsten aller Elemente – und doch seid ihr unendlich frei!
Frei wie der alte Rabe im Wald, der eigentlich ein Adler ist!“
„Wassergeschöpfe sind noch freier als alle Bewohner der Lüfte“,
entgegnete ihm der Waller.
 „Schließlich sind wir Fische sind viel länger auf der Welt als Vögel, die auch aus dem Wasser herstammen wie Archäopteryx  und Phönix.  Wir können überall hin schwimmen, wo es unser Element gibt, rund um den Erdball, auch in die kältesten Regionen des Planeten, auch dorthin, wo kein gefiederter Zeitgenosse leben kann. Selbst in den schwarzen Untiefen des Ozeans bewegen wir uns virtuos, in Dunkelheiten, die noch kein Sterblicher ausgeleuchtet hat.
Erkenne sich selbst, hat dir der sibyllinische Rabe geraten.
Die Götter haben dir vier Hufe gegeben und ein starkes Kreuz.
Nutze diese Gaben - und nutze auch den Tag … gemäß deinen Fertigkeiten – bete und arbeite,
faste und genieße,
lache und freue dich,
achte die Schöpfung und wahrlich, Esel, ich rate es dir,
bleibe der Erde treu!
Denn da hat Gott dich hingestellt, da hast du deinen Platz,
sie nährt dich redlich, wenn auch manchmal im Schweiße deines Angesichts, aber sie ist dein Element, während das meine das Wasser ist.
Vertraue dem Wort eines alten Fisches, der einiges beobachtet und einiges erkannt hat;
 und setze deinen Weg fort – mit Zuversicht, jenseits aller Melancholie! Vielleicht wirst du dein Erdenglück finden, nachdem du suchst und die Welt der Esel, wo du eselsgemäß leben kannst.
Trachte, sie zu finden und auszuloten.
Doch erst wenn du dein Selbst  gefunden hast, das Seelenruhe und Seelenheil bedeutet, wirst du erkennen, was wahre Glückseligkeit ausmacht!“

Faustinus glaubte den guten Mentor Felix reden zu hören. So vertraut klang das alles – und so luzid, so locht und deutlich! Die Klarheit war nun da, nur die Methode fehlte noch, um die Pläne umzusetzen, um die Ziele auch zu erreichen.
„Also soll ich weiter zur Mündung hinab, zum weiten Meer – oder doch lieber gleich zur ursprünglichen Quelle hinauf, Wels, wohin muss ich…“
Der Wels überlegte, dann gab er halblaut zurück:
„Vielleicht trägt dich ein Schiff hinaus in die große Freiheit, wenn du eines findest. Vielleicht musst du kehrt machen und gegen die mächtige Strömung schwimmen, zur Quelle hin.“
Erfolgsrezepte konnte er keine anbieten, nur Denkhilfen, Anregungen, guten Rat, der auf Erfahrungen beruhte und auf gültigem, überprüfbarem Welt-Wissen.
„Aber können Esel überhaupt schwimmen oder gar tauchen …?“
wehrte sich Eselchen Faustinus wieder verunsichert. Es wurde still.
Eine Antwort bekam er nicht mehr. Ein Jammer!
Der Wels war auf und davon, hinab zum Grund, in die ruhige Geborgenheit der Nacht; in eine Welt, die da war, vor der aber weder Esel noch Wölfe etwas wissen konnten.




Copyright: Carl Gibson

Idylle und Melancholie



Am nächsten Morgen kam mit der wiederkehrenden Sonne neue Zuversicht auf. Die schwärzesten Gedanken waren durchdacht und durchlitten.
Das schreckliche Gewitter war vorbei. Und die Winde hatten alles verweht, auch die Leiden. Die Luft war so rein wie die Seele des kleinen Waldesels. Und liebliche Vogelstimmen drangen jetzt an sein Ohr. An ihren bunten Liedern kletterte eine Lerche selig in die Luft. Die Wiese um ihn herum war ein Blütenmeer. Es duftete nach Nektar und Ambrosia. Und die Bienchen machten sich auf, um die Pollen zu sammeln für die Nahrung im Winter.
Das muntere Treiben in der Natur machte dem Wanderer erneut Mut weiter zu schreiten.
„Im Grünen, im Grünen“ Das vertraute Motiv war wieder da, die Waldeslust, das pralle Leben in göttlicher, beseelter Natur. Nach dem Erlebnis des bleichen Wüstensands sah das fette Grün der Baumkronen nun noch fetter aus.


Zärtliche Musik erfüllte Faustinus Gemüt und holde Poesie. Die Waldbegeisterung der Romantiker stellte sich wieder ein und das pulsierende Leben in allen Formen, Naturphänomene unmittelbarer Art, die ihm Auftrieb gaben und zusätzliche Kraft, den Weg durch Flusstäler und über Pässe zum Strom hin fortzusetzen.
„Wie seltsam das Leben doch waltet“, wunderte sich Faustinus, der alle Ereignisse und Begebenheiten später gründlich zu analysieren pflegte, immer den tieferen Sinn im Sinn.
„Manchmal muss man nur still abwarten, bis die trüben Wolken vorüber ziehen und die Wetterfront sich lichtet!
Die Winde, die vergänglich sind und doch ewig wehen, tragen alles davon und über die Zeit hinaus.
Und manchmal handelt man nicht selbst, sondern etwas handelt in uns!
Ein Etwas, ein höherer, undurchschaubarer Wille, durchzieht uns und bestimmt für uns; eine Kraft, die uns auch denken und dichten lässt!
Ist es das Unbewusste, der blinde Weltwille, der uns durchströmt?
Ist es das dionysische Weltprinzip, das alles wirkt und schafft?
Ein alles durchdringendes Prinzip, das durch das Apollinische nur begrenzt wird, um wahrnehmbar zu sein?
Und sind wird heiter und harmonisch gestimmt wie ein Flügel, wenn Einzelwille und Weltwille zusammen fallen?“
Solches kombinierte das Eselchen mit Lust.


Spekulieren, Erkenntnisstreben, ja das gesamte Philosophieren muss mit Freude betrieben werden, wenn es das Leben fördern soll!
Als Faustinus endlich den mächtigen Danubius weit unten im Tal durchs Land schlängeln sah, war er fast schon wieder der Alte, der ewige Optimist, der seinem zweiten Namen alle Ehre machte – ein nach höherem Sein suchender Wanderer auf dem Weg durch die Welt, ein Grenzgänger des Denkens, der offenen Auges seinem Ziel entgegen strebt.

Der Abstieg von den Hügeln fiel nicht schwer. Bereits nach ein paar Stunden Dauermarsch hatte Faustinus das Ufer erreicht: Hier strömte er und verströmte sich, der große Strom Europas – „Hister“, so nannten ihn die Römer. In der Sprache der Nachfahren der Wölfin und bei allen Eseln weit und breit war der Strom weiblich – „Die Donau“!



Ein heiliger Fluss wie der Nil und Vater Rhein! Eine eigene Welt, nicht nur für Fische!

Faustinus staunte – das Licht der Fluten, diese Weite!
Wasserüberflutete Auen überall; Schilfrohr und alte, krumme Trauerweiden, deren herabhängenden Äste die Wasseroberfläche berührten.
Doch von Trauer war hier keine Spur: Die Frösche quakten vergnügt in den Tümpeln und durchbrachen mit ihrem Gequake den Chor tausender Rohrsänger und das Geschnatter von Wildenten und Blässhühnern, die in verborgenen Nestern ihre Eier ausbrüteten. Ein eitler Schwan glitt majestätisch über das Wasser und musterte den jungen, fremden Waldesel aus der Ferne. Die Überfülle pulsierender Natur war greifbar – eine ungetrübte Welt, ein Idylle!
War das vielleicht der Ort, wo auch ein armer Esel auf ewig glücklich sein konnte?
Der stets auf Wahrheitsstreben und Lebensglück bedachte Faustinus sah sich neugierig um, entdeckte aber keine Artgenossen weit und breit.
Wo waren die Esel in diesem Paradies?
Konnte er also glücklich werden inmitten de anderen Tiere, wenn die vertrauten Esel weit waren?
Würde er sich in diesem Reich nicht bald einsam fühlen, obwohl so viele glückliche Tiere um ihn herum lebten; Kreaturen, die genießerisch den Tag auskosteten und die unmittelbaren Freuden, die er schenkte? Faustinus verharrte im Staunen vor dieser Welt.

So musste der Garten Eden bestellt gewesen sein, lange vor dem großen Sündenfall, der Gottheit und Kreatur entzweit hatte. Oder unmittelbar nach der Sintflut, als die Tiere der Arche Noah entstiegen waren, um vom Berg Ararat aus einen neuen, sittlichen Anfang zu wagen in einem harmonischen Staatsgebilde, ohne Feindschaft, ohne Krieg – damals, im Goldenen Zeitalter, als die Schöpfung noch intakt war und die Tiere glücklich? Da Faustinus im behüteten Concordia aufgewachsen war, suchte er überall nach Concordia, während andere nur das Eldorado im Sinn hatten, Reichtum, Erfolg, mehr Haben als Sein.
Sicher erwartete ihn eine ähnliche Idylle auch im Land der Esel?
Nur dorthin gelangen musste er schon selbst.
Sein Fern-Ziel trieb Faustinus wieder an und die Erwartung eines Glücks von Dauer.
„Nicht den Augenblick will ich genießen, das Hier und Jetzt, sondern ein Glück, das lange wehrt und bis ins hohe Alter reicht“, sagte sich das naive Eselchen, bevor es munter trabte weiter. Zuversicht war jetzt in ihm und viel Gottvertrauen.


Während Faustinus weiter dem Strom entlang auf das Meer zusteuerte, traf er auf eine Stelle, wo die träg dahin fließende Donau enger wurde und tosender, an einen schmalen Durchbruch. In Jahrmillionen hatte der stete Tropfen den Stein ausgehöhlt, um sich sammelnd mit Wucht ins Meer zu ergießen.
„War der Wassertropfen mächtiger als der Stein?
Vielleicht war auch Milde stärker als Macht?
Wie schade nur, dass Esel nicht noch älter werden, um herauszufinden, welches Prinzip am wirkungsvollsten ist“,
räsonierte Faustinus beim Anblick des Werkes, dass die erhabene Natur in Jahrmillionen geschaffen hatte.
Von einer mächtigen Felsklippe aus ließ er seine Blicke in die Ferne schweifen – hinüber an das andere Ufer der Donau zunächst, nach Süden, wo angeblich etwas freiere Tiere lebten, wenn auch nicht glücklichere. Dann sah er hinab in die schäumende Flut, die etwas von dem silbernen Licht der Sonne zu ihm hoch spiegelte. Faustinus genoss den Rundumblick, der neue Ziele ausmachte und auf neue Ideen verwies - und der gleichzeitig ein Blick zurück war in die Weiten der Geschichte.

Die Römer hatten hier einst Brücken gebaut, bevor sie als Eroberer übersetzten, um ihr Weltreich zu vergrößern. Davon waren noch ein paar Ruinen auszumachen; alte Steinhaufen, vom Zahn der Zeit zernagt. Zunehmend nachdenklicher geworden, setzte sich der Esel auf einen Stein, den die Natur zum Verweilen geformt hatte, allein zwar, doch noch nicht vereinsamt.
„Verweile doch – es ist so schön … hier! Genieße den Augenblick!“  

Ohne  recht über die intuitiv eingenommene Pose nachzudenken, saß der Denker da, das Kinn auf ein Vorderbein gestützt, wie einst Walter, der Troubadour und Ovid, der andere große Dichter, weiter unten am Meer.
Faustinus verharrte lange an dem schönen Ort, zunächst heiter, euphorisch, ja entrückt, himmelhochjauchzend,  dann aber - nach dem Umschwung von Dur in Moll - wieder zu Tode betrübt, mit tieftraurigem Blick, wie schon tausend andere Melancholiker vor ihm, die Ähnliches durchlebt und durchlitten hatten.
War es nicht Herz zerreißend, dass alles Erhabene und Schöne vergehen und auch das Herrlichste verwehen wusste in der Zeit, ohne aufgehalten zu werden?
Sinnend starrte er in die Flut, in der alles vorüber floss und dahin schwand.

Sahst du ein Glück vorüber gehen,
dass nie sich wieder findet,
Ist’ s gut in den Strom zu sehen,
wo alles wogt und schwindet.

Keiner konnte zweimal in den gleichen Fluss steigen: Alles war im Fluss – „Panta rhei“- Der Dunkle hatte es so gesehen – und die Melancholiker der Romantik ebenso … der eigene Lieblingsdichter.
Dass Werden vollzog sich da unten als permanentes Neuwerden.
Wie viele große Lyriker ganzer Völker hatten die Vergänglichkeit beklagt, ihm Nachdenken darüber fast verzweifelnd? Nun sollte Faustinus den Augenblick ertragen, ohne auf Dauer dem nieder ziehenden Pessimismus zu verfallen?
Das Wüstenerlebnis kam wieder hoch mit ähnlichen Heimsuchungen, die den müde gewordenen Wanderer überfallen wie Diebe ihr ahnungsloses Opfer in der Nacht. Als Faustinus so nach innen horchte, hinein in das eigene Herz, wo einige Forscher der Tierakademie den Seelenurgrund und den Sitz der Seele vermuteten, vernahm er wieder eine schwache, doch durchdringende Stimme aus der Tiefe der Brust, die klang wie ein Ruf aus einer anderen Welt. Erneut war es die Botschaft eines unbekannten Dämons, die jetzt an sein Ohr drang, eine schrille Stimme der Verzweiflung, die ihn erneut aufforderte,  alles nieder zu werfen und ihr zu folgen.
Wohin?
Über den Abgrund hinaus, in das Rätsel der Schöpfung, ins Nirwana?
Das Wasser schäumte trügerisch und verlockend.
Faustinus zögerte.
Sollte er jetzt springen?
Endgültig Schluss machen mit dem Leiden in einer Welt, die nicht ganz die seine war?
Rettung finden, Erlösung finden in einer besseren Welt, in der sanften Welt des Hades, wo Seth regierte, der heilige Esel aus der Wüste, und wo vielleicht auch kleinere Esel besser aufgehoben waren als in der rauen Unvollkommenheit der Wolfswelt?
Sollte er jetzt in einem letzten Erkenntnisakt das Geheimnis lüften und hinter die enigmatische Schöpfung blicken?
Der Reiz war übermächtig wie das Verlangen, Nein zu sagen, wo die Zeit des Ja doch vorüber schien.
Bevor er sich zur letzten Entscheidung aufraffte, zum Sprung in die Freiheit und endgültige Gewissheit, blickte Faustinus noch einmal wehmütig zum Himmel, vielleicht, um sich mit einem letzten Gruß für immer von einer Welt zu verabschieden, die ihm nicht ganz hold gewesen war. Der Himmel schwieg. Doch von unten im Strom glaubte er einen Weckruf vernommen zu haben, der ihn vom Sturz in die mörderische Fluten abhielt. Ja, die mahnende, ihm Einhalt gebietende Engelsstimme kam aus dem Wasser.




Copyright: Carl Gibson

Großer Mittag



Das Eselchen trampelte weiter ins Tal hinab, im Kopf wenig versöhnliche Gedanken.
War es gut so, dass sich im Existenzkampf der Arten das Angepasste und Starke durchsetzte, während das Niedere und Schwache auf der Strecke blieb?
War das, was die Natur so eingerichtet hatte, gottgewollt?
Und konnte Gott eine Natur zulassen, die ohne Moral war?
Je mehr Faustinus von der Welt wahrnahm, desto unzufriedener wurde er.
Der Rabe, der eigentlich schweigen wollte, hatte in seiner Geschwätzigkeit zu viel verraten und den Suchenden ungewollt gehemmt. Einen unglücklichen Esel hatte er aus ihm gemacht, einen, der mit Concordia fast alles verloren hatte, die Geborgenheit der Heimat und jetzt auch noch das Grundvertrauen in das Leben selbst. Worauf durfte er noch hoffen, wenn es ungerecht in der Natur zuging und überall Unheil drohte?


Die schwarzen Wolken schoben sich jetzt vor die Sonne und verfinsterten die Welt. Während ein Sturm aufzog, der Faustinus zwang, in einer Grotte Zuflucht zu suchen, kullerten ein paar Tränen aus seinen Augen.
Regnete es schon?
Aus dem lebensfrohen Esel aus dem lustigen Stall war ein armer Wanderer geworden, ein Fremdling ohne Ziel und Vaterland, der traurige Lieder sang wie einst die zarten Dichter der Romantik. Die Romantik, ach, damals hätte er leben sollen!
Halb ohnmächtig vor Schmerz und Trauer ließ er sich fallen. Resignation umhüllte ihn. Faustinus fühlte, dass es  bald aus sein konnte, dass es zu langsam Ende ging mit der Wanderschaft und vielleicht sogar mit  ihm. Am liebsten wäre er für immer in dieser Grotte geblieben, um auf dem weichen Moos zu sterben. Faustinus hatte oft über den Sinn seines Sein nachgedacht, über das unbestimmte Los der Esel und der Eselheit - und auf einmal war die gesamte Sinnstruktur zusammen gebrochen. Das Leben hatte plötzlich jeden Sinn verloren.
Nihilismus umfing ihn, der Horror vacui hauchte ihn an, das Nichts der Leere statt einer  ausfüllenden Lehre.
Wozu überhaupt noch weiterkämpfen wie Don Qichotte und Sisyphus, wo doch auch jenseits des Stromes alles Leben nur Leiden war –
und das pralle Leben selbst eine gewaltige Passion?!
Und das Land der Verheißung, das Land der Väter, das Land, wo Milch und Honig fließen sollen, wo es fettestes Grün gab und aromatischstes Heu, das Land der Esel, es war noch so weit entfernt, unerreichbar weit. Faustinus hatte bereits darüber berichten hören in kurzweiligen Geschichten älterer Esel, die schon dort waren während der Weltkriege. Helden, die selbst die eine oder andere Eselei auf den Weg gebracht hatten, nicht nur zum Wohl der Eselheit und der Kultur aller Esel, hatten ihm das Schlaraffenland farbig ausgemalt.
Doch auch jenes Paradies war ein Fernziel wie die Glückseligkeit, wie die Jugend ohne Alter und das Leben ohne Schmerz und Leid, ohne Kummer und Tod.
Bei diesen fruchtlosen Überlegungen ohne befriedigende Antworten wurde Eselchen Faustinus immer missmutiger und schwermütiger. Die schöne Natur erschien ihm auf einmal weniger angenehm; und ihm Lied der Vögel in den Zweigen vernahm es nur noch bittere Klagen. Plötzlich kamen ihm nur noch traurige Lieder in den Sinn, Volksweisen und Kunstpoesie, die er einst im Stall vernommen, damals aber noch nicht recht verstanden hatte; lyrische Melodien mit einprägsamen Reimen und ergreifendem Gehalt, die etwas von dem Schmerz, der auch in ihm war, festhielten und wiedergaben. Jetzt bekam der eine oder andere unreflektiert in trautem Kreise mitgesungene Vers eine neue Bedeutung. In Faustinus Ohr formten sich bald Töne, die lauter wurden und deutlicher. Sinnend lauschte er den inneren Elegien, um dann irgendwann aus voller Kehle mit sonorer Stimme mitzusingen, laut wehklagend, ohne an die Gefahr zu denken, die überall im Unterholz lauerte :

…warum meide ich denn die Wege,
 die andere Wanderer gehen,
 suche mir versteckte Stege…

habe ja doch nichts begangen,
das ich Tiere sollte scheuen,
ach welch törichtes Verlangen,
treibt mich in die Wüsteneien…

Kaum hatte es das Schreckenswort, das nicht weniger bedeutete als Untergang und Tod, ausgesprochen, als ihm auffiel, dass sich die Natur seines Umfelds deutlich veränderte. Der Boden unter den Hufen wurde sandiger und bald bestand er nur noch aus Sand. Das Grün vergilbte und wurde karger. Bald waren nur noch ein paar kümmerliche Disteln zu sehen und stachelige Kakteen, deren Dornen nichts Gutes bedeuteten. Dornenvögel schwirrten durch die Luft und sangen ein wehmütiges Lied vom Sterben.
Und der Weg war weg.
Weg ist, wo etwas weg ist!
Solches hatte er einmal einen Phänomenologen des Weges verkünden hören.
Jetzt war er selbst auf dem Holzweg – und in der Sackgasse vielleicht? Holzwege?

In manchen Gegenden bedeuteten sie Rettung vor der See, in anderen nur Verirrung und Untergang.
Wohin des Weges, wenn kein Weg mehr da war?
Verzweiflung kam auf. Es fühlte sich wie im Labyrinth – gejagt von Minotaurus, doch ohne den Faden der Aridane und ohne einen kundigen Mephostophiles als Cicerone an seiner Seite.
Trotzdem ging das Eselchen weiter – der aufsteigenden Sonne entgegen, weil Stehenbleiben gleich war mit Sterben.
Während die Wüste wuchs, nahm der Mut ab und der Trotz, der alles antrieb.
Der Geist aber blieb noch eine Weile rege – Faustinus erinnerte sich …
Hatte es nicht auch die großen Suchenden in die Wüste verschlagen? Und jene, die in stiller Einkehr ihr Selbst finden wollten – und Gott dahinter?
Ganze Heerscharen von Anachoreten hatten in der Wüste gelebt, mit und ohne Esel.
Seth, ein zwielichtiger Urahn aller Esel, ein Heiliger und ein Teufel, kam er nicht einst aus der Wüste!?
Und die großen Stifter der Weltreligionen zogen sich in das Sandmeer zurück, um Einkehr zu halten und um das Bewusstsein frei zu machen für die Erkenntnis von Gut und Böse?
Buddha hatte in der Wüste meditiert,
ebenso Jesus und Zarathustra?
Alte Propheten, Prediger und Dichter hatten dort dämonische Heimsuchungen erlebt - und sie hatten trotzdem den Versuchungen böser Geister widerstanden!
Eselchen Faustinus fühlte, wie solch anstrengende Gedanken seine Kräfte aufzehrten und das letzte Wasser in seinen Adern, welches sein Denken aufrecht erhielt. Das Blut wurde dicker, die Luft dünner, der Leben spendende Sauerstoff knapper, je höher es hinausging. Leichte Halluzinationen stellten sich ein, ohne dass Faustinus viel davon merkte. Irgendwann wurde der Durst übermächtig; allmählich trocknete der  Esel aus. Das schlecht versorgte Gehirn weitete sich, schwoll an, um bald ganz zu streiken. Erst kurz vor dem Delirium erkannte Faustinus die warnende Symptome des überbeanspruchten Körpers. Wasser musste her! Ein Königreich für einen  Eimer von dem köstlichen Nass hätte er angeboten, wenn er den eines besessen und ihm irgend jemand hier in der Einöde zugehört hätte.
Doch nirgendwo in der Gluthitze sprudelte eine Quelle. Jede rettende Oase war weit.
„Wohin soll ich mich nun wenden?“
fragte sich das Eselchen und blickte hinauf zur gütigen Sonne, die hoch im Zenit stand und ihm gnadenlos Hirn und Fell verbrannte. Nirgendwo war Schatten, noch sonstige Linderung.
Der Große Mittag brach an und mit ihm eine stille Verzweiflung, die das Eselchen so intensiv noch nie erlebt hatte, wurde übermächtig. Exponiert stand Faustinus zwischen Sein und Nichts, nur auf sich selbst gestellt. Wer konnte ihn hier und jetzt noch retten?
Vielleicht hätte es doch auf dem kühlen Moos sein Leben aushauchen sollen, statt hier im heißen Wüstensand unter Schlangen und Skorpionen elendig zu verenden?
Aus der mächtigen Düne, die ihm den Horizont verstellte und jede Perspektive, starrte ein bleiches Gerippe hervor. Und doch war hier auch Leben – und Hoffnung?
Ein Erdmännchen spähte neugierig aus einem Erdloch. Eine Echse turnte auf zwei Beinen und eine geschmeidige schnelle Schlange huschte hurtig über die Glut. Faustinus kämpfte sich die Düne hoch und sah sich um. Sand, nur brauner, heißer Wüstensand. Fast am Horizont war eine gescheckte Hyäne zu sehen, die aus einem Grab winselte. Und ein Geier kreiste wartend durch die Luft. Leben und Tod lagen hier im Widerstreit – das Werden und Vergehen, hier hatte der Lauf der Welt ein Gesicht.
War dies das eigene Ende?
Faustinus wollte sich gerade ein letztes Mal fallen lassen, um die geschundene Seele auszuhauchen, als er halb im Delirium, halb im Wachzustand eine schwache Stimme zu vernehmen glaubte:

„Halt ein!
Warte ab!
Ruhe dich aus!“
hörte er die Stimme rufen.  War es der Mittagsdämon?
War das ein guter Dschin der beseelten Natur oder ein böser geist, der nun zu ihm redete? Oder war alles nur eine Trübung des Bewusstseins, das ohne Wasser nicht mehr unterscheiden konnte?
So etwa klang die Stimme der Melancholie in der Wüste, die zum Zweifeln verleitete, zur Sünde, dann zum Abfall von wahren Glauben - schließlich von Gott. Mancher Einsiedler und Wüstenschiffer war bei solchem  Sirenengesang verzweifelt.
„Eile fort! Spute dich!“
 mahnte die Stimme eines anderen Geistes. Faustinus war verwirrt: Wessen Aufforderung sollte es nun folgen?
Dem Niederziehenden oder dem Erhebenden, wo doch das erste Prinzip Erlösung versprach und das zweite endloses Weiterleiden?
Das Bewusstsein wurde noch trüber und trüber, während das Dilemma der Entscheidung  erhalten bleib.
Wie sollte der Austrocknende und vollkommen Erschöpfte in der Glut des Mittags noch zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können, hier am Nullpunkt der Existenz, wo ihm jede kräftigende Nahrung fehlte und vor allem das lebenserhaltende Wasser?
Was war noch echt - und was war bereits Täuschung?
Durfte er, der einst ausdauernde Esel, jetzt schwach und träge werden? Und durfte auch er der sündhaft tückischen Acedia verfallen, die seinerzeit selbst die verehrten Vorbilder Augustinus und Petrarca beschlichen hatte?
Die Todsünde verwies auch auf den drohenden Tod.
Das Denkvermögen nahm in der Gluthitze weiter ab. Irgendwann würden Verstand und Vernunft versagten den Dienst endgültig versagen. Das ahnte Faustinus. Da er aber unbedingt weiter leben wollte, bündelte er noch einmal alle mentalen und körperlichen Kräfte, fest entschlossen, das letzte Gefecht zu wagen.
„Wenn ich mich jetzt aufgebe, bin ich für alle Zeiten tot und kann nicht mehr mitverfolgen, wie es weiter geht auf dieser doch so schönen Welt. Bäume ich mich aber auf und laufe nach ein Weilchen weiter, bis zum letzten Atemzug, dann kann es sein, dass ein Deus ex machina auftaucht und mich aus dieser Hölle rettet“
Also trottete Eselchen Faustinus weiter, halb apathisch, halb intuitiv, ohne Kompass und ohne Leitstern in der Nacht.
Kurz vor letzter Ermattung fand er wieder glücklich aus dem Todesmeer hinaus.
Hatte eine Gottheit in gerettet?
Hatte der Zufall seine Schritte gelenkt – und ein dumpfer Trieb, im dunklen Drange, der ihn immerfort  antrieb?
Oder war es doch nur der eigene störrische Wille, der Wille eines Waldesels aus Siebenbergen, dem er Rettung und das Weiterleben verdankte?
Am schattigen Ufer eines rauschenden Bächleins ließ sich Faustinus
fallen und sog gleich gierig und mit allerletzter Kraft etwas von der kühlen Kostbarkeit in sich hinein, reinstes Wasser ganz nah am Ursprung, das ihm besser schmeckte als der köstlichste Wein. Ein Überlebenstrieb, der in ihm war, hatte ihn her zum Wasser geführt. Und das heilige Wasser, aus dem einst alles entstanden war, weckte die Lebensgeister und holte Faustinus bald gesund in die Welt zurück.

Als bald darauf die Besinnung wieder kam und mit ihr das klare Denken, wurde Eselchen Faustinus bewusst, dass so etwas wie Taufe in ihm vorgefallen war: Er hatte die Katharsis des Purgatoriums erlebt, eine Vorhölle, die seine befleckte Seele wieder schneeweiß färbte.
Die Wüste hatte auf ihre Weise nicht nur Glaubensstifter, Propheten und Anachoreten geläutert, wieder erweckt  und zur wahren Gesinnung geleitet, sondern auch Poeten, Philosophen und einen Waldesel. Solch erquickende Erkenntnisse geleiteten das geplagte Tierlein in einen langen Schlaf.



Copyright: Carl Gibson