Seitdem Lupus das Zepter an sich gerissen hatte, wehte ein anderes Lüftchen im noch jungen Wolfsstaat. Er war jetzt der Führer aller Wölfe und beanspruchte die Vorherrschaft für sich und sein Volk überall in der Region, in Wald und Flur. Nach langen Studien und reiflicher Überlegung war Lupus zur Erkenntnis gelangt, der schon dekadent gewordenen Wolf müsse sich wieder zum wahren, wilden Wolf erheben, um seiner historischen Bestimmung gerecht werden. Die Nachkommen der Wölfin, die Romulus und Remus gesäugt hatte, hätten eine höhere Mission – und diesen Auftrag höherer Art gelte es jetzt umzusetzen: „Ein Glück, dass ihr mich gefunden habt“,
sagte er in einer lange applaudierten Rede zu seinen Volksgenossen. Er war der unbestrittene Primus inter pares, während alle anderen Genossinnen und Genossen waren, Gleiche und alle den gleichen Ketten entsprungen.
Ein freies Volk waren die Wölfe nun schon seit Jahren, nachdem sie das Joch der Geier, Esel und der Bären endgültig abgeschüttelt hatten, frei zur Selbstentfaltung bis hin zu fernen Zielen, an welchen Lupus Tag und Nacht unermüdlich arbeitete.
Fortan sollte es nur noch in eine Richtung gehen – hinauf. Und die Grundzüge dieses erleuchteten Pfades hinauf hatte der Erleuchtete selbst in seinen großen Werk definiert:
Im „Sonnenstaat“!
Ein „neues Altlantis der Wölfe“ schwebte dem Führer vor, „ein Staat der glücklichen Sklaven“, wo einer das Sagen hatte und die Vielzuvielen gerne gehorchten, aus Einsicht oder aus Furcht und Angst.
Das Glück der Vielen lag ihm am Herzen – und das eigene bedeutete ihm nichts.
Lupus war eine Laune der Natur, eine durch Mutation ganz zufällig entstandene Riesenbestie, weitaus größer und stärker als die mächtigsten Exemplare, die je im Karpatenbogen gesehen worden waren.
Wer sich ihm entgegenstellte, wurde totgebissen. Rivalen duldete er nicht.
Und weil er immer im Recht war, folgte ihm auch die Partei.
Was er dekreditierte, wurde umgesetzt – und was er an hehren Ideen verkündete, war Staatsziel.
Eine Tyrannis mit einem allgewaltigen Herrscher an der Spitze, war nach seiner Auffassung die ideale Staatsform, während demokratische Formen friedlichen Zusammenlebens als entartet anzusehen waren und Niedergang bedeuteten.
Das Recht des Stärkeren entsprach dem eigentlichen Naturrecht, das göttliche Gesetz war, einst von der metaphysischen Instanz für alle Kreatur so festgesetzt.
Nachdem er in einigen kapitalen Folianten manches über die Entstehung der Arten, über Klassenkampf und über den Willen zur Macht in der Natur gelesen hatte, wurde es zur Gewissheit: Es konnte nur der Wolf sein, dem die legitime Vorherrschaft in dem Karpaten zukam, ferner der jungfräulich fruchtbare Lebensraum im Osten … und schließlich einmal als Endziel: die Herrschaft über alle:
die uneingeschränkte Weltherrschaft!
Das war Lupus Vision – ein Sonnenstaat!
Ein Staat des Lichts nach innen … und eine expansive Politik nach außen bis zum Endsieg über alle Kreatur!
Die neue Weltanschauung und Offenbarung!
Und Concordia, das begrenzte Sylvanien, ihre Wertewelt dahinter? Was bedeuten sie schon? Kleinkram, Kategorien, die bald schon überwunden werden mussten, weil sie schwach und spießig waren und sich selbst überlebt hatten. Die Vorstellung von idealer Harmonie war nach Lupus Überzeugung ebenso antiquiert wie die unbegrenzte Freiheit, weil solche Wertauffassungen von jeher gegen das Naturgesetz verstießen, das weder harmonisch war noch frei und das keine Schwäche duldete.
Herr oder Knecht?
Lieber Herr!
Und noch besser: Selbstherrlicher Herr!
Immer schon in der langen Geschichte der Kreaturen hatten sich die Stärkeren das genommen, was ihnen zustand.
Und immer schon hatten die Walter der Macht bestimmt, was gut und gerecht sei. Wie Konstantin und Karl der Große einst das Christentum mit dem Schwert durchsetzten, so sollte die als anzustrebendes Staatsziel bereits dekretierte „Weltanschauung des Lichts“ so schnell wie möglich praktisch umgesetzt werden, auch in den abhängigen Provinzen.
Nach oberstem Befehl sollten sich nunmehr auch alle Tiere Concordias der weisen Führung des Oberwolfs unterordnen und seiner Vision einer noch aufzubauenden Gesellschaft des Lichts folgen, damit die endgültige Glückseligkeit aller Tiere erreicht werden kann.
Die Verfechter des Lichts, das waren seit jeher die Guten.
Die Anhänger der Dunkelheit hingegen, die Mystifikatoren und Obskurantisten, kurz die Bösen, das waren immer die Anderen.
Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, wenn alle Mühen und Plagen überwunden sein sollten, dann sollten alle Tiere glücklich werden und für alle Zeit sorglos im Garten Eden leben!
Ja, das war Lupus Vision.
Und dieses heile Utopia einer ewigen Jugend ohne Kummer und Schmerz war aus vielen Reden des Oberwolfs deutlich herauszuhören. Trostvoll verlockend klang die Botschaft - und selbst die Geschöpfe Sylvaniens hatten billigend applaudiert. Kaum einer durchschaute den Zauber. Das Volk ließ sich einlullen mit Versprechungen und einem Eiapopeia, dass diesmal irdischer Natur sein sollte.
Nur der Fuchs und ein paar Eingeweihte aus den höheren Etagen der Macht wussten von den Haken und Ösen, die den ehrgeizigen Entwurf noch zunichte machen konnten: denn sie hatten die Details des Paktes ausgearbeitet, in welchem das künftige Verhältnis zwischen Führer und Volk definiert worden war.
Die noch zu errichtende Gesellschaft des Lichts sollte ein Führerstaat sein, in welchem der Einzelne nichts war – und das Volk über seinen Führer alles.
Der reiche Lohn für die Loyalität, blinden Gehorsam und vielfache Plackerei winkte natürlich nur jenen Tieren, die selbstlos an dem großen Fernziel mitarbeiteten, den Altruisten, die sich – nach dem Vorbild des Führers - gerne opferten und selbst ihr Leben für eine hehre Aspiration hingaben.
Wenn eines Tages das Wesentliche erreicht war in der neuen Gesellschaft der Tiere, dann sollten endlich alle Freunde der Arbeit und des Aufbaus gleichgestellt sein bis auf die Leittiere, die Wölfe. Als Ersten unter den Gleichen sollte ihnen dank einer genetischen Disposition und ihrer besonderen Fertigkeiten die natürliche Führungsrolle erhalten bleiben.
Wer aber die lichte Schau der Zukunft nicht teilte, wer an dem hehren Fernziel herummäkelte und es zersetzte, noch bevor es Wirklichkeit geworden war, der sollte auf ewige Zeiten aus dem Paradies verstoßen sein und in den Tiefen der Hölle schmachten – oder zumindest im Purgatorium.
Ja er sollte alle Kreise der Hölle kennen lernen, auch die Teufeln von der Inquisition auf dem langen Weg zum Ziel!
Eine Opposition sollte es künftig nicht mehr geben.
Denn Gegensätzliches wirkte nicht dialektisch synthetisch, sondern zersetzend negativ.
Widerrede, Ungehorsam durfte nie wieder geduldet werden. Bestraft werden sollte solche Destruktion, hart und gnadenlos!
Wer sie betrieb, wurde ausgerottet wie das Unkraut im Feld - mit Stumpf und Stiel. Nur Härte und Beharrlichkeit führten zum Ziel.
Wer genau hinhörte, konnte diese Kernthesen auch aus der unmissverständlichen Sprache radikaler Lupisten heraushören, aus deren Reihen sich gerade die Kampfeliten formten – Raubtiere höherer Gattung, Bestien mit apathischem Antlitz und trägem Bewusstsein, sonst aber härter als Stahl, zäher als Eselsleder und noch flinker als die windigsten Hunde weit und breit.
Ein Staat des Lichts?
Ein Sonnenstaat?
Das neu erweckte Atlantis?
Das klang verlockend!
Utopia nannten einige kluge Köpfe diesen großartigen Emanzipationsentwurf der Tierheit, während andere nicht minder Gescheite vom neu formulierten Eiapopeia des Himmels sprachen, von der Wiedererweckung des Goldenen Zeitalters, vom Garten Eden. Im Paradies aber lauerte die Schlange – oder ein noch schrecklicherer Basilisk!?
Nur den allerwenigsten unter den denkenden Tieren war bewusst, dass mit der Renaissance des archaischen Urzustands in ferner Zukunft, eben in jener Gesellschaft des Lichts, in der Wölfe auf ewig herrschen wollten, auch alte, längst überwundene Verhaltensformen wieder kehren würden, jenseits von Mitleid und Empathie.
In jener unseligen Wiederkunft des Gleichen aber war das Tier dem anderen Tier ein Wolf.
Wölfe hatten immer schon scharfe Zähne. Und sie waren mit einem unbedingten Willen ausgestattet, die Weisungen des Leitwolfs durchzusetzen. Ob blond oder schwarz - sie waren Über- Tiere. Und nur sie, also die stärksten, härtesten und zähesten unter ihnen. Lebensunwertes Leben durfte es nicht geben, selbst unter Wölfen nicht. Anpassung und Auslese waren angesagt – und als Motor dahinter ein unbedingter Wille zur Macht.
Sie, die Tüchtigsten unter allen Helden, waren die Auserwählten, die Zier der Tierheit – Wölfe von Anbeginn an, reinrassig und makellos. Das hatte man ihnen unendlich oft und zu allen Anlässen eingeschärft, so lange, bis auch die letzten Skeptiker unter den Grauen daran glaubten.
Wer sich aber dem hehren Gesellschaftsziel öffentlich widersetzte, und das galt für Untertanen und für rebellische Wölfe, wurde nach kurzem Prozess abgeurteilt und totgebissen – standesrechtlich exekutiert.
Selbst der Wolf war, wenn es ein musste, dem Wolf ein Wolf!
Schließlich war selbst die Menschheit an ihrem Humanitätsstreben zu Grunde gegangen!
Copyright: Carl Gibson
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