Bisher hatte der kleine Faustinus in einer beschaulichen Welt gelebt, jenseits von Sodom, geborgen und weitgehend glücklich in heimischen Concordia, im goldenen Zeitalter einer sorgenlosen Kindheit. Doch diese Zeit näherte sich ihrem Ende. Er blieb auch heiter und betrachtete die Welt außerhalb des Stalls so lange mit dem Fernglas, bis es ihm eng wurde in der Brust und er eine große Sehnsucht fühlte, hianus in die Welt zu ziehen.
„All’ meine Ruh ist hin, und mein Herz wird so schwer“,
jammerte Faustinus vor sich hin; und er wäre vor Fernweh, Sehnsucht und Leid fast zerflossen, wenn er nicht zugleich auch ein Kämpfer gewesen wäre, ein munterer Pirat des Geistes und ein Samurai, bereit, nach neuen Meeren aufzubrechen in der Hoffnung nach großen Taten. Die ganze Welt der Tiere und Pflanzen wartete darauf, ausgelotet, erkundet zu werden.
Was der Misthaufen im Kleinen war, bot die Welt in anderem Maßstab. Entdecken – wie Darwin mit der Beagle – und Alexander von Humboldt auf seiner Fahrt zum Orinoco. Ganze Kontinente warteten – und eine jungfräulich unerschlossene Welt hinter der Welt!
Handeln war jetzt angesagt, beherztes Hinausschreiten über die Begrenzung!
Alle seine Märchenhelden waren einst hinaus gezogen, um ihr Glück zu machen: Der gestiefelte Kater, der kleine Muck, selbst den Kleinsten, den Däumling, zog es, im Ohr eines Ochsen versteckt, hinaus in das Unbekannte, in die Welt der Gefahr!
Das Gruseln konnte man lernen in fernen Ländern und die Überwindung von Furcht und Angst. Dann erst war man wirklich frei! Abenteuer waren überall zu erleben. Allein, nur auf sich gestellt, der eigene Tatkraft vertrauend - wie der brave Drachentöter, dem nach dem Triumph über die Bestie ein feiger Rivale die Zunge stahl, um mit dem falschen Beweis die Prinzessin zu freien.
Oder gemeinsam in der Gruppe - wie jene Sechse, die dank ihrer einmaligen Fertigkeiten durch die ganze Welt kamen. Gaukler und Schelme wie Till Eulenspiegel und Taugenichtse aller Art wie Münchhausen, der verwegene Baron, zogen in die Weite, um ihr Lebensglück zu finden. Wie konnte da ein wackerer Faustinus länger am hohen Misthaufen ausharren, den doch der Hahn für sich beanspruchte, um von dort aus die schöne Natur betrachten wie ein Bilderbuch? „Erfahrungen sind viel wichtiger als alles Gut und Geld“,
hatte im Felix nicht einmal erklärt:
„Später im Leben, wenn Zenons Schiff gesunken und alle Reichtümer nur noch den Meeresgrund zieren, kannst du immer noch auf deine Erlebnisse zurückgreifen, von ihren Geistesfrüchten zehren und die erfüllte Vergangenheit genießen, selbst wenn Kummer und Pein dich quälen. Deine Erfahrungen und Erlebnisse werden dich in traurigen Stunden trösten - und sie werden dir helfen, das Künftige neu zu gestalten und aufzubauen. Wie Phönix wirst du bei Niederlagen aus der Asche steigen, in die andere dich vielleicht gestoßen haben werden. Schule also deinen Geist und wappne dich im Handeln für die Zukunft.“
Faustinus, ein Stehaufmännchen?
Das entsprach seinem Temperament als Waldesel wie ein maßgeschneidertes Fell.
„Nur nicht zu früh verzagen! Nur nicht aufgeben und endgültig resignieren, bevor man Großes begonnen hat. Nur wer etwas wagt, kann auch was gewinnen“,
sagte er sich, wenn Missmut aufkam und lähmende Lustlosigkeit. Tief in seinem Innern fühlte er, dass es tatsächlich so sein musste. Bevor es zu spät sein konnte und auch er in Ungnade verfiel – wie unlängst einige rebellische Wildtiere – bevor er gar in jenem berüchtigten Loch landete, von dem ihm ein alter Märtyrer seines Volkes erzählt hatte, wollte er selbst noch einiges überprüfen und feststellen, wie das Leben wirklich war, wo es anders pulsierte und wie es sich in der weiten Welt gestaltete, fernab des schützenden Stalls der Heimat.
Existenzielle, selbst gemachte Grenz- Erfahrungen, auch das hatte ihm Felix eingeschärft, waren weit wichtiger alles graue Wissen der Bücherwelt, wo nie genau festzustellen war, ob all die Taten auf eigenem Fell erlebt oder nur von erfindungsreichen Fabulierern ersponnen waren. Also legte Faustinus Schopenhauers Lebensweisheiten aus der Hand, ebenso den Reineke des großen Goethe, entschlossen, selbst zum Wanderer zu werden und auf Reisen zu gehen wie Wilhelm Meister und die Goldesel der Antike.
Die Idole seiner Jugend, Dichter und Denker, deren geflügelten Worte ihm Flügel verliehen mit dem Mut, in die Ferne zu schweifen wie Pegasus, waren ihm allesamt guter Erzieher gewesen. Sie hatten ihm einiges von dem vermittelt, was seit der Antike an großen Gedanken gedacht worden war, essenzielle Dinge, die das Leben selbst betrafen und mithalfen, seine Probleme zu bewältigen. Ihr Geist sollte seine Wegzehrung sein auf der langen Bahn ins Unbekannte, seine geistige Nahrung und die Nahrung seiner Seele. Sein Kompass sollten die Weisheiten sein und sein Ruhekissen während der Rast.
Die künftige Erkundung der Weite faszinierte ihn schon jetzt, denn im Geiste war er war ein Pionier, ein Entdeckungsfahrer in die entlegensten Ecken der Welt, dorthin wo der nächste Schritt ins Nichts führt, an die Grenze von Sein und Nichtsein, an den Abgrund – im Angesicht des Todes!
Memento mori! Das schreckte ihn nicht – zuerst leben, den Augenblick voll ausleben, genießen, was die Welt zu bieten hat, und erst dann über den Sinn von Sein reflektieren und in Melancholie verfallen.
„Carpe diem“, nutze den Tag und die Stunde!
Wer konnte schon wissen, wie kurz das Leben wirklich war und wann die letzte Stunde schlug? Die Welt lockte mit ihren Reizen … und das Glück, das es zu finden galt, fiel einem nicht einfach zu. Man musste schon daran schmieden …
In der weißen Sandwüste wollte er Einkehr halten wie einst rufende Propheten und karge Eremiten, dann dem Farbenspiel der Chamäleons folgen im immergrünen Urwald mit kreischenden Kakadus in den Baumkronen.
Die brüllenden Winde Feuerlands wollte er spüren und das ewige Eis sehen auf dem Dach der Welt. Exotische Orte wollte er kennen lernen, Afrika, die Wurzeln in Afrika, den Spuren verschwundener Kulturen folgen mit ihren Mythen und alten Gebräuchen, ursprüngliche Welten hinter der heimischen Sylvaniens, damit man später nicht von ihm behauptete, er sei nur ein hinterwäldlersicher Esel.
„Andere Länder, andere Sitten“,
hatte er die Alten sagen hören, wenn sie über Wölfe und Bären lästerten, die ihnen frühere einmal untertänigst gedient hatten.
„Und bestimmt auch andere Werte“,
reimte sich Faustinus vorausschauend hinzu. Tatsächlich:
Die Werte und Tugenden wandelten sich von Grenze zu Grenze wie die Farben der Chamäleons in veränderter Situation. Was in diesem Stall noch als gut galt, konnte sich im Wald gegenüber schon in das Gegenteil verkehren.
Zählte nur die subjektive Sicht, das eigene Empfinden, das Gesetz der Perspektive? Oder war ein Wert überall ein Wert?
Und gab es Werte an sich?
Gab es auch Wesen, die beim erlittenen Peitschenhieb frohlockten? Oder fühlten alle den echten Schmerz?
Gab es universelle Tierrechte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? War was Recht war auch gerecht?
Und war die Würde des Tieres in irgendeiner großen Magna Charta für alle Zeiten und Ewigkeiten festgeschrieben?
Faustinus philosophierte vor sich hin, nachdenklich kritisch, still hoffend, diese Grundfragen bald in eigener Anschauung und Reflexion zu beantworten.
Alsdann entschloss Faustinus sich zur Wanderung zunächst, um bald die große Fahrt aufzunehmen, hinaus ins Blaue wie Kolumbus, der Seefahrer, unbewusst bereit, mit dem heimischen Stall auch die Welt seiner Kindheit hinter sich zu lassen.
„Es zieht mich mächtig hinaus in die Ferne!“
lag der der Mutter immer öfter ihm Ohr.
„Unser Stall ist dunkel und eng – und der stinkende Misthaufen vor meiner Nase verletzt mein ästhetisches Empfinden! Die Langeweile Concordias wirkt geisttötend; sie bremst meinen Elan und sie belastet zunehmend mein zärtliches Gemüt, während draußen vor der Tür die pralle Lebensfülle lockt in göttlicher Natur! Gott offenbart sich nur in der Natur. Denn Gott ist die Natur. Das ahne ich und will es auch fühlen!“
„Daheim ist daheim“,
entgegnete die Mutter trocken und zugleich bestürzt.
„Man gibt seine Heimat nicht so leichtfertig auf. In der Welt ist vieles ungewiss, manches ist schlecht da draußen. Behütet lebst du hier in Concordia! Solch eine Wohnstatt findest du kein zweites Mal auf der Welt! Vergesse nie, dass du ein Eselsspross bist. Bleib daheim und nähre dich redlich. Bist du der Heimat einmal ledig, wird’s ungemütlich auf der Welt. Dann bist du wie ein Blatt im Wind, ohne Halt und Ruh, überall wirst du ein Freunder sein, mit Argwohn beäugt. Und die Einsamkeit der Fremde beginnt schon jenseits der Tür! Gerade Waldsesel haben es nicht immer leicht in fernen Landen. Ausgestoßene sind sie gar, Opfer der eigenen Geschichte. Nur allzu gern werden sie verhöhnt, verspottet, wenn sie nicht gerade Goldesel sind, die immerfort Dukaten speien!“
„Ja, selbst versklavt werden sie überall!“,
schaltete sich betrübt der Vater ein. Die ernsten Bedenken durfte er nicht verschweigen. Unfreiwillig hatte er einige Segnungen der Welt erfahren müssen, in Sühnearbeit eine Schuld tilgend, die andere ihm eingebrockt hatten. Die schönste Lebenszeit, die unwiederbringliche Jugend, hatte er fern von Daheim verbringen müssen, im kühlen Land der Bären – und unterm Joch. Jene Leiden hatten ihn geprägt und auf Ewig nachdenklich gemacht. Eine dem Wahn geopferte Generation müsse genügen. Davon war er innerst überzeugt. Wohl ahnend, dass der ungestüme Faustinus nicht mehr länger aufzuhalten war, warnte er nur noch mit leiser, schwacher Stimme:
„Jedermann will uns Waldesel zu eigenen Zwecke gebrauchen, ja missbrauchen. Weshalb, Sohn, willst du in die Ferne schweifen, wo das Gute doch so nahe liegt?“
„Aber ich will doch nur dem flachen Land entfliehn, dem begrenzenden Wald, den seichten Hügeln, hinauf will ich, zu wahren Höhen und höheren Sphären, entgegen, und später dann … vielleicht ganz hoch hinaus!
Von oben will ich dann die Welt betrachten!
Hinab ins Tal will ich schauen, dann hinunter steigen bis zum großen Strom, dessen Lauf ich folgen will.
Den Hain entlang möchte ich wandern im Morgengrauen, wenn Rehe und Hirsche äsen, dann tief in den Wald hinein, wo die bunten Vöglein singen in den Zweigen - und nachts die Nachtigallen schlagen!
Bis zur blauen See will ich … und auf ihren Wogen hinaus, zu neuen Ufern!
Die Weite der Welt brauche ich zu meiner Ausbildung, sonst bleibe ich für allezeit ein Nichts, der verachteter Hinterwäldler aus Sylvanien und der sprichwörtliche „Esel“, immerdar!“
ereiferte sich Faustinus. Etwas naiv war er zwar noch, aber auch sentimentalisch – und vom Geist der Romantik erfüllt, der die Welt erhöhte.
Das traute Heim bedeutete ihm nicht mehr viel. Alles hier begrenzte ihn in seiner Entwicklung, der Stall, der Hof, der Zaun. Losreißen musste er sich und ausbrechen wollte er, um zu erkennen, was die Welt in ihrer Weite, Vielfalt und Tiefe ausmachte und was sie in ihrem Innersten zusammenhielt. Sein noch bescheidenes Bild von der Welt sollte erheblich erweitert, vervollständigt werden, um viele Phänomene und Seelenwelten erfassen zu können, um sie ausloten, die Tagesseite wie die Nachtseite der Natur.
„Heimat“, was war das schon? Die Sprache, das Umfeld, die Werte der Heimat, wo er doch nur eine geistige Heimat brauchte und eigentlich auf der ganzen Welt zu Hause zu sein?
Wie sollte er etwas schätzen, was er nicht als Wert empfand?
„Was nützt mir die Geborgenheit der Heimat, wenn sie mich festlegt und hemmt“, ermutigte er sich selbst.
„Ein Trottel würde ich bleiben ein Leben lang, eben der ewig dumme Esel in den Augen der anderen und der Wolfswelt hinter und über der Eselswelt. Vor allem aber würden sie einen Untertan aus mir machen, einen Wehrlosen, wie es der verbannte Vater war, während die Welt mich frei macht und sicher auch glücklich!
Oft ist schon der Weg das Ziel, selbst wenn es ein langer Irrweg wird wie bei Odysseus!
Bei Zeus! Da will ich doch viel lieber Stürmen trotzen an fernen Stränden als tatenlos verzagen, ohne den großen Entwurf auch nur erstrebt zu haben.
Wagen will ich es, wie andere es auch gewagt haben, ohne feige zu sein! Wenn ich dann scheitern soll, wohlan, dann auf dem Weg hinauf als Ringender und Strebender – als Held!“
Die hellsten Köpfe der Antike hatten auch viel gewagt, von den Lehrjahren in Ägypten bis zum Sprung in die Ätna-Glut, die überbordenden Künstler der Renaissance ebenso, Leonardo … Michelangelo!
Grenzen waren da, um überschritten und Gesetze, um gebrochen zu werden. So musste es sein. Das brachte die unvollendete Schöpfung weiter.
Auch der alte Namensvetter Faustus hatte es so gehalten, ein Renaissancegeist auch er – und ein Vorbild! Jener weltbeschreyte Zauberkünster Faustus, der sich sogar mit dem Teufel höchst persönlich abgegeben und mit dem Bösen paktiert hatte, der sein Seelenheil hingab, nur um einen Blick in das Geheimnis der Schöpfung zu werfen. Die wundersame Historia hatte Faustinus mehrfach mit Lust gelesen, ja verschlungen und dann studiert. Jetzt galt es auf dem Weg zum Ideal den Idolen nach zu eifern – im Handeln, in der Tat!
War es nicht höherer Wille, so vorzugehen?
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt!
Diese Verse hatte er einmal einen Wandersmann singen hören, einen Handwerksburschen auf der Walz. Wie zuversichtlich das Lied erklungen war!
Das Wandern machte wahrlich aus dem Jüngling einen Mann. Und das Wandern hatte Tradition auf der Erde seit der Genesis, seit der Vertreibung aller Kreatur aus dem Paradies und seitdem viele Geschöpfe aus Afrikas Garten Eden höher gewandert waren.
Damals in grauer Urzeit begann der Exodus für Individuen und Völker. Und dieser Exodus, davon dämmerte Faustinus etwas, hielt immer noch an.
Alle Kreaturen waren eigentlich Fremde in der Welt – und letztendlich einsam. Nur wussten viele es noch nicht!
Das Reisen bildete fürwahr. Den Horizont erweiterte es und das Bewusstsein.
Candide war weit gereist, auch Zadig und Gulliver, Simplicissimus, Wilhelm Meister, auch der traurige Ritter Don Quichotte, ferner der Hans im Glück, der gutmütige Tumbe und der kleine Nils Holgerson auf dem Rücken der Wildgänse. Sie alle hatten viel von der großen Welt gesehen, bevor sie ihre letzten Schlüsse zogen wie Zenon, der Stoiker, und Aristoteles, der Geistesgigant.
Also musste auch Faustinus scheiden und so oder so sein Schicksal vollenden, selbst wenn es schwer fiel.
„Weshalb bescheidest du dich nicht und handelst so, wie wir es taten und wie es uns die anderen Tiere vormachen weit und breit, die einfach leben und schlichte Wege beschreiten statt steinige und von Dornen umrankte.
Ihnen genügt das „kleine Glück“. Folge ihrem Vorbild, übe dich leidlich ein im Tragen und im Ziehen, arbeite hart auf dem Feld wie Ochsen und Pferde, erhebe deinen Atem in freier Luft und schmettere, wenn es dir danach ist, dein helles I-Aaa zum Himmel!
Hier kannst du selbst sein und glücklich, auch ohne mit den Wölfen heulen zu müssen!
Wenn du ihnen fern bleibst, wollen sie nichts von dir!
Wir zahlen ihnen den jährlichen Tribut und erhalten uns so die relative Freiheit.
Die Freiheit des Untertanen ist dem Los der vollkommen Unfreien immer noch vorzuziehen.“
So jammerten die besorgten Eltern in vielen Variationen, wohl ahnend, dass die Stolpersteine kantig und die Hürden hoch sein würden in der fremden Welt.
„Bedenke, Junge, im grünen Wald, dort wo die Drossel singt und wo das holde Rehlein springt, dort sind leider auch die Räuber und andere finstere Gesellen!
Ungeheuer aller Art, grimmige Wölfe, Wehrwölfe, Schwarzbären, hungerbestimmte Hyänen und Geier, ja noch schrecklichere Untiere lauern dort im Gehölz, niedere Bestien, die es nicht immer gut mit meinen mit sanftmütigen Eseln meiner.
So ein zarter Eselsbraten kommt ihnen gerade Recht!“
Alle Register des Schreckens ziehend, versuchte der besorgte Vater ihn ein letztes Mal vom Wagnis abzubringen. Doch selbst die Einschüchterungen halfen nichts mehr.
Der böse Wolf aus der Fabel hatte längst seinen Schrecken verloren, zumindest für den Aufgeklärten des Geistes, der seiner Tatkraft mehr zutraute als den unbestimmten Ängsten des bedrohlich Verborgenen. „Der Teufel ist in Wirklichkeit bestimmt nicht so schwarz, wie man ihn bildlich darstellt, wenn mein guter, alter Namensvetter aus Knittlingen sich so lange mit ihm abgegeben hat. Vielleicht ist er gar rot – und verkündet die Wahrheit?
Wer Teufel und Werwölfe nicht fürchtet, für den hat der gemeine Wolf jenseits Sylvaniens allen Schreck verloren.“
So redete sich Faustinus Mut zu, nach der Kraft suchend, die elterlichen Mahnungen zu überhören. Nichts war ihm mehr zuwider als Kleingeisterei und selbstbeschränkender Provinzialismus.
„Wo ein Wille ist, dort ist auch ein Weg“,
zitierte Faustinus ein weises Wort, das er einmal in einem dicken, heiligen Buch gelesen hatte und machte sich umgehend daran, Reisevorbereitungen zu treffen. Er schnürte seinen Ranzen und packte auch noch ein paar von jenen Büchern ein, die es am meisten liebte. „Jeder angehende Philosoph auf Wanderschaft ist ein kleiner Odysseus - und jede Odyssee ist eine Reise ins Unbekannte, ohne Wiederkehr vielleicht“,
sagte sich der Jungesel und verstaute Homers Werk. Dann legte es noch einiges von Ovid dazu für schöne und für traurige Tage, die Kunst des Liebens und die Metamorphosen, die Göttliche Komödie Dantes als Wegweiser durch künftige Höhlen und Höllen, den himmlischen Shakespeare, der das irdische Jammertal so vollkommen auf die Bühne gebracht hatte, einige aufklärerische Schriften von Descartes und Montaigne sowie einiges romanhaft Versponnene aus zarterer Feder; schließlich Goethes Faustdichtung, doch nur den ersten Teil, ferner Nietzsches Zarathustra und ein schmales Bändchen von Fragmenten aus den Ur- Tagen der abendländischen Philosophie, in welchem die Lehrmeinungen der elementaren Denker vor Sokrates aufgezeichnet waren.
„Von nichts kommt nichts“,
ermutigte er sich, als es bald merkte, dass sein Bündel schwer wurde, selbst für einen tragkräftigen Jungesel.
„Papier ist wie Blei – und die Weisheit hat manchmal etwas Niederziehendes“, witzelte er vor sich hin, da ihm unter Altersgenossen gescheiter Umgang fehlte; er war aber nicht bereit, auch nur eines der geschätzten Werke zurück zu lassen.
„Ein Buch ist ein Buch, und das seit Jahrtausenden – und das Beste, was die Menschheit hinterlassen hat“.
Solche Last trug selbst ein Esel gerne. Lichtmetaphysiker, wie er einer war, lebten nun einmal nicht nur von Heu allein, sondern von Nahrung, die in Weltliteratur schlummerte.
Seitdem die große Bibliothek von Alexandria niedergebrannt worden war, war das Wissen rar geworden auf der Welt. Und wo das Wissen fehlte, irrten manchmal auch die Herzen.
Nachdem es seine Wegzehrung für die nächsten Tage zusammen hatte, nahm er Abschied von den Eltern. Sie hatten einen ansehnlichen Jüngling aus ihm gemacht und dafür gesorgt, ihm die berühmten „sieben Jahre von Daheim“ beizubringen, so gut es ging und im Rahmen der „sylvanischen Pädagogik“, die sich immerhin achthundert Jahre – durch Reformation, Humanismus und Aufklärung hindurch – bewährt hatte. „Achte auf Anstand und Würde, lieber Sohn – und gehe deinen Weg so, wie ihn deine Vorfahren beschritten haben. Bleibe fromm und bescheiden – und hüte dich vor der Hybris, denn sie bedeutet Sünde und Untergang. Ikarus soll der ein warnendes Beispiel seil. Er flog hoch hinauf, den elysischen Feldern der Götter entgegen – und er fiel tief, noch bevor er seine Vermessenheit erkannt hatte. Prometheus musste ewig leiden und der schlaue Sisyphus, der gleichfalls die Götter hintergehen wollte.
Mit den Göttern soll sich nicht messen der Esel, besagt ein bekanntes Dichterwort. Es gibt eine Grenze – für Esel und für andere endliche Wesen, selbst für den Wolf.
Achte auf das Maß und suche stets die goldene Mitte, wie wir es dir vorgemacht haben hier im Stall.
Concordia konnte nur bestehen, weil wir die Mitte wählten, Ausgleich und Versöhnung, statt Spaltung und Hass.
Hüte dich vor der Lüge in allen ihren Formen, Junge, vor bigotten Charakteren und vor allem vor solchen, die Lüge und Wahrheit gern mischen und mengen.
Hüte dich vor den Täuschern, auch vor denen, die laut aufschreien auf dem, die aufs Forum schreiten, um andere an den Pranger zu stellen. Hüte dich vor denen, die den ersten Stein werfen, denn diese Guten und Gerechten sind oft nur Heuchler, die andere ins Unglück stürzen durch ihre Selbstsucht!
Besinne dich deines Glaubens, Junge, deines Gewissens und achte auf dein unmittelbares Verhältnis zu Gott, den du immer suchen und immer ansprechen kannst.
Das ist die Freiheit des Waldesels, die uns auf dem schwierigen Weg durch die Geschichte immer geholfen hat!
Lügen haben kurze Beine, Junge, und: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, wenn er denn auch die Wahrheit spricht!“
Faustinus fühlte sich in die Tage seiner Kindergartenzeit zurückversetzt. Eine alte Eselsdame vornehmer Herkunft hatte ihnen diese frommen Sprüche immer wieder eingetrichtert. Oft hatte er über die Botschaft nachgedacht und nach der Selbstprüfung im Abendgebet festgestellt, wie schwer das Gebot zu befolgen war.
Jetzt aber, wo es ernst wurde auf dem Weg in die Welt, wollte er doch nach den Maximen leben, streng und beharrlich wie ein Mönch.
„Und noch etwas, Sohn“, schloss die Mutter:
„Handle auf allen deinen Wegen immer so, dass dein Tun allgemeines Gesetz sein könnte“.
Sie umarmte Faustinus und wandte sich unter Tränen ab, bestimmt von dem Gefühl, ihn nie wiederzusehen. Wer sich in die raue Wolfswelt wagte, war schon so gut wie tot. Das konnte sie ihm nicht sagen, wohl ahnend, ihn auch damit nicht von seinem natürlichen Aufwärtsstreben abhalten zu können.
Nach der Lösung von den Eltern verließ Faustinus sein trautes Heim. War es für immer?
Optimistisch marschierte er auf den nahen Wald zu, der schwarz und schweigend da stand wie eine Gewitterwand. Doch das schreckte ihn ebenso wenig wie der schrecklich schwarze Teufel aus dem Bilderbuch. Mutig schritt er den Herausforderungen entgegen.
Philosophisches umwehte sein Gehirn: Der Nachklang der elterlichen Ermahnungen, die er ihnen in dieser Deutlichkeit gar nicht zugetraut hätte, vermengt mit Spekulationen, was wohl noch folgen würde.
„Die Welt ist offen wie ein Buch“,
kombinierte er,
„und wer darin zu lesen versteht, der wird ihre tieferen Geheimnisse lüften“.
Die sieben Siegel der Heiligen Schrift würden sich nach und nach öffnen und ihm das Rätsel der Schöpfung preisgeben: Gut und Böse – und das Jenseits davon.
Luzifer – der Strahlende, war er nicht ein gefallener Engel!?
„Jeder Wolf ist als Tier mein Mitgeschöpf“,
sagte er sich - und
„alle Geschöpfe sind vor den Augen Gottes gleich, also Brüder“.
„Brüder aber“,
folgerte das Einzelkind,
„leben nicht in Hass und Zank, sondern in Eintracht, in gottgewollter und göttlicher Harmonie. Also existiert das Böse nicht auf der Welt. Was böse anmutet, erscheint nur so, weil die Sicht eingetrübt ist.“
Faustinus war zum Optimisten erzogen worden: Stets positiv denken, immer zuversichtlich bleiben, auch in der Not.
Wer Concordia als Idealbild einer guten Gesellschaft erlebt hatte, nahm auch an, die ganze Welt dahinter sei nicht viel anders, selbst die Wolfswelt. Weil der zarte Faustinus noch keine wahren Übel an Leib und Seele erfahren hatte, weigerte er sich noch, Umwelt und Umfeld böse zu finden und schlecht von der schönen Welt zu denken. Es war nicht zu verkennen, dass er im behüteten Heim aufgewachsen sein war, verwöhnt unter einer Glasglocke im Sonnenstaat Concordia, auf jener kleinen Insel der Seligen, die aber vom mächtigen Wolfsstaat umgeben war. Concordias trautes Milieu hatte ihn geprägt, die Welt der Esel und der friedfertigen Tiere. Der kategorische Imperativ seiner kleinen Welt hatte ein vornehmes Tier aus ihn gemacht, ganz nach dem alten Motto, das es unausgesprochen tief im Herzen verankert hatte:
„Edel sei das Tier, hilfreich und gut!“
Und doch war er nicht grenzenlos gutgläubig, ja naiv. Ohne sie näher anzusprechen, hatte er Entwicklungen beobachtet, Besorgnis erregende Phänomene, und Schlüsse daraus gezogen, bereits ahnend, dass die beschaulichen Tage der Eintracht auch in den heimatlichen Gefilden bald enden und eine Zeit der Zwietracht, Hetze und Spaltung brechen würde.
Säbelgerassel und das zunehmend aggressivere Verhalten der wölfischen Nachbarn vor der Haustür verwies in die diese Richtung. Die Realität Sylvaniens hatte sich verändert in letzter Zeit und mit ihr auch das Alltagsleben in Concordia. Alles war längst nüchterner geworden. Das vergnügte Miteinander der Friedfertigen Sylvaniens hatte ein Ende gefunden. Heil und heimatliche Geborgenheit waren dahin. Und was noch schlimmer war – die Zeit der Freiheit schien zu Ende zu gehen, jener Freiheit, die Identitätserhaltung und Selbstentfaltung bedeutete. Da wollte Faustinus dagegen halten – und das trieb ihn in die Welt.
Bald erreichte Faustinus den dunklen Tannenwald, der sein Gesichtsfeld bisher begrenzt hatte. Unverzagt überschritt er die Schwelle und trat ein in eine neue Welt, die fetter grünte als anderswo. Die Natur präsentierte sich ihm in ihrer Allmacht. Jetzt fühlte auch er etwas von der Waldeslust singender Romantiker. Und jetzt erst verstand er die Sentenz, „zurück zur Natur“, die er bei Epikur gelesen hatte und später bei Rousseau. Die Waldeseinsamkeit war da, der Quell für große Gedanken und zugleich die pralle Lebensfülle.
Vogelgezwitscher drang mächtig an sein Ohr und Merlin gleich hörte er Stimmen, die anderen verborgen blieben. Auch sahen seine Augen erstmals Dinge, die sonst keiner sehen konnte: Feen und Nymphen, Satyrn und Kobolde, alles verklärt in hellstem Sonnenlicht, das auch seine Seele erreichte. Ahnungen stiegen auf und Visionen, die von einer lichtvollen Zukunft kündeten. Je tiefer Faustinus im Wald vordrang, desto mehr Tiere sah er, freundliche, liebe Mitgeschöpfe, die er bisher nur aus Bilderbücher, Erzählungen, Fabelgeschichten und aus dem Märchen kannte. Die unterschiedlichsten Kreaturen tummelten sich hier im Wald, hoch oben in den Baumkronen oder versteckt in Höhlen oder im Erdreich.
Richtig grimmige Wölfe hatte Faustinus eigentlich noch keine zu Gesicht bekommen. Die wenigen Wölfe Concordias, die er daheim vor der Haustür und in Eselberg erspäht hatte, waren ihm harmlos erschienen, zahmen Hunden gleich. Sie hatten sich den Landesgesetzen unterworfen, fremde Sitten und Gebräuche angenommen und lebten angepasst als Minderheit mit anderen Tieren, ohne aufzufallen. Einige waren sogar zu Vegetariern geworden.
Hier im Wald aber lebten andere Wölfe, wild gebliebene Räuber, reißende Bestien? Hier war ihr Territorium, ihr Jagdrevier; hier waren sie daheim und in ihrem Element!
Die nachhallenden Warnungen der Eltern machten ihm plötzlich bewusst, wie leichtfertig er sich auf den Weg gemacht hatte:
„Wird gleich eine Bestie hervorspringen und mich in Stücke reißen“, ängstigte er sich. Je mehr Faustinus über drohende Gefahren aus dem Unterholz nachdachte, desto unbehaglicher fühlte er sich. Der gute Mut war auf einmal dahin.
Furcht machte sich breit und die Sorge um das eigene Leben. Auf einmal kamen ihm dann auch die vielen Dinge in den Sinn, die Felix ihm vom Wolfsstaat erzählt hatte, von den Visionen des Lupus, von fernen Utopien, vom Sonnenstaat und der Tyrannis und vom großen Terror, um all das umzusetzen.
Copyright: Carl Gibson
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