Freitag, 2. September 2011

Wie der Esel zum Wolf werden sollte





Erstmals traten raue Wölfe in Faustinus' Leben. Ihr Blick war ernst. Eine höhere Pflicht schien sie zu lenken und ein höherer Wille. Einsame Steppenwölfe waren diese Tiere längst nicht mehr. Und bestimmt waren sie auch nicht frei. Zu Herdentieren hatte man sie geformt, zu Jägern, die im Rudel jagten, auch wenn kein Hunger sie antrieb, und zu Kriegern, die angriffen und töteten, wenn der Befehl erfolgte.
Faustinus erinnerte sich jetzt der mahnenden Worte des Vaters, der vor Räubern gewarnt hatte, vor Fleisch fressenden Raubtieren. Doch erst als Faustinus beim Davoneilen die schneidigen Zähne eines Jungwolfs am Hals verspürte, war er in der Wirklichkeit des Wolfsstaates angekommen. Die Kindheit war nun endgültig vorbei. Auch die Geborgenheit jener Kindheit mit der versponnenen Romantikwelt.
Das hier war kein Roman mehr. Des Lebens Ernst kam nun mit Macht und mit ihm die Verpflichtung, fügsam zu sein, zu gehorchen, zu funktionieren im Räderwek als Rädchen und als Bindeglied in der Kette, die alles zusammenhielt.
„Wer nicht mit uns ist“,
verkündete ein Leitsatz der Staatsverfassung,
„ist gegen uns“.
Und „wer gegen uns ist“,
das war in einem geheimen Zusatzprotokoll festgehalten,
„der hat seine Existenzberechtigung verwirkt“.
Fortan musste Faustinus lernen, im Staat der Wölfe zu überleben. Der Staat der Wölfe, in welchem die Esel nur eine unscheinbare Minderheit darstellten, nicht anders als die verwandten Pferde, Wildpferde, Zebras, Maulesel und Maultiere, als die Ochsen, die Schweine, die Schafe, die Gänse, die Rehe und Hirsche und viele andere Tiere, war in seiner Ausdehnung weitaus größer als in der Vorstellung. Das Staatsgebiet umfasste noch weite Landschaften jenseits der sieben Berge : es erstreckte sich über Felder, Fluren und den großen Wald hinaus reichend bis hinab zum Strom, ja bis zum blauschwarzen Meer, in dessen Wogen sich die aufgehende Sonne spiegelte.
Weit gereiste Tiere hatten ihm von den Fernen berichtet. Ein schönes Land war der Staat der Wölfe; und reich war er auch. Nur einig waren sich seine Bewohner nicht, seitdem die selbstherrlichen Wölfe sich über alle anderen Mitgeschöpfe erhoben hatten, über niedere Wölfe und Haushunde ebenso wie über die zahlreichen anderen Tiergattungen und Rassen.
Seitdem der Führerstaat ausgebaut und die Macht der Wenigen, die mit harter Hand regierten, konsolidiert wurde, ging es den meisten Tieren täglich schlechter.
Die  schon kargen Freuden wurden noch weniger und die Nahrung knapper. Nur den Kriegern ging es noch gut im aufstrebenden Lichtstaat und den vielen Bluthunden, die den harten Gesetzen zum Durchbruch verhalfen. Allmählich kam Willkür auf. Und bald kam die Angst. Terror machte sich breit im Staat. Viele Tiere misstrauten einander – und sie fürchteten sich mehr und mehr. Gehorchen war jetzt angesagt, blinder Gehorsam.
Wenn nachts die kriegerischen Wölfe heulten und dabei gespenstisch zum Mond blickten, sollte Eselchen Faustinus mit einstimmen wie manche ausgewachsene Esel, die inzwischen mit den Wölfen heulten und selbst im Chor jubilierten, ohne zu merken, dass ihr „I – Aaa“ recht dissonant klang.
Kaum einem fiel auf, dass Esel und Wölfe nicht zum harmonischen Zusammenklang prädestiniert waren. Während Faustinus auf seinem Weg durch den Wald immer noch angestrengt über das Wesen aller Esel nachdachte und über die Fragen, ob es das Tragen sei oder das Ziehen, was ihre Wesenheit ausmache oder ob Esel auch für höhere Dinge geschaffen seien, für das Denken, für die Kunst, für das Dichten, Komponieren und das Singen; oder ob die Musik nicht besser ohne den Eselsgesang auskäme, kam ein übel gelaunter Wolf aus der Partei auf ihn zu und schnaubte es rüde an:
„Viel zu lange schon beobachten wir dein Nichtstun zu, Esel! Das muss jetzt ein Ende haben.
Musische Esel brauchen wir hier nicht.
Für Künstler, Taugenichtse und Parasiten aller Art ist in unserer Gesellschaft kein Platz. Schließlich leben wir nicht im Wolkenkuckucksheim des Aristophanes, sondern in einem modernen Staatsgefüge, wo jedermanns Leistung gebraucht wird.
Wir arbeiten an einer großen Vision, am autarken Staat des Lichts, in dem eines Tages alle Tiere glücklich leben werden!
Wir bauen am Sonnenstaat der Tiere. Jeder wird dort seinen gebührenden Platz haben.
Sum cuique – jedem das Seine!
Doch auf dem Weg dahin müssen alle mitwirken.
Auch die Faulen, auch du!
Jedes Tier muss seine egoistischen Zielsetzungen hinten ansetzen, ja aufgeben, und sich voll und ganz dem großen Staatsziel widmen. Altruismus ist jetzt angesagt.
Du bist nichts, Freundchen, nur dein Staat ist alles!
Und deine erste und letzte Bürgerpflicht besteht darin, diesem Staat zu dienen, weil er es ist, der dich schützt und nährt!
Begreifst du das, Esel?
Oder sind dir große Ideale fremd?
Dein Starrsinn, hinter welchem ich nur spießige Dekadenz erkenne. ja Renitenz, ist nicht mehr zeitgemäß.
Du musst dich ändern, Esel, und dein Verhalten der Gesellschaft gegenüber!
Entweder du lernst endlich etwas Gescheites und aus dir wird bald ein anständiger Wolf - oder wir werden dir deine langen Ohren noch länger ziehen!
Unten, im Steinbruch oder in den Bleiminen im Berg kannst du deine Kreativität gut ausleben! Manch störrischer Maulesel ist dort unten fügsam geworden und mancher Dummkopf klug!
Warte nur … Wenn du nach einer Weile im Loch immer noch nicht folgen solltest, dann ziehen wir dir dein graues Fell über die Ohren! Aus deinen strammen Waden aber machen wir Wintersalami! Eselsfleisch macht sie besonders lecker!“


Der Wolf war für die ideologische Gleichschaltung aller Staatsbürger zuständig. Mit Drohungen und Einschüchterungen sollten die Tiere gefügig gemacht und zu bewussten Wölfe umerzogen werden.
„Eher wird aus einem Wolf ein Schaf, als ein Schaf zum Wolf“,
sagte sich Faustinus zunächst noch unbeeindruckt, insgeheim entschlossen, nie etwas von seiner Wesenheit preiszugeben und sein ureigenstes Sein zu behalten.
Das Selbst war noch nicht einmal gefunden und richtig ausgelotet, da sollte es schon am Altar der Wölfe geopfert werden?
Der Nachhall kam erst später – und mit ihm die Beunruhigung, als Faustinus auf einem Kissen aus weichem Moos sitzend noch einmal gründlich über alles nachdachte.
Solch barsche Töne hatte er bisher noch nie vernommen – dazu noch die unverhohlene Drohung, als Wurst zu enden?
War das die viel zitierte Brüderlichkeit unter den Tieren?
Wie vollendet konnte ein künftiger Sonnenstaat sein, wenn die Methoden des Aufbaus verwerflich waren?
Wurde ein Wert nicht zum Unwert, wenn er falschen Zielsetzungen diente?
Und war dieser erstrebte Lichtstaat doch keine friedliche Kommune, sondern ein hierarchisches Imperium an dessen Spitze ein autoritärer Führer stand?
Ein Über- Tier als Diktator?
Kamen die schon überwunden geglaubten Totalitätssysteme der untergegangenen Menschheit wieder … mit den vielen Untertieren und dem einen allmächtigen Übertier als Gottkönig?
Was kam auf Faustinus zu?
Was sollte er tun?
Was konnte er lassen?
Gab es Alternativen zur Anpassung und zum Mitläufertum bei Erhaltung von Identität und Würde?
Wie konnte ein fahlgrauer Waldesel zum braunen Wolf werden, wo er doch ein Langohr war?
„Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ich zum Raubtier werde“,
sträubte er sich. Trotzige Auflehnung war in ihm – und ein verkappter Wille zum Widerstand. Philosopheme der Alten wirkten sich jetzt aus, mancher Satz der Stoiker und das Primat der grundlegenden Weltwissenschaft Philosophie vor der Dichtung, die klar war und nicht versponnen.
Zur Bestie metamorphosieren?
Seltsame Verwandlungen forderten die Wölfe ein?
Vergleichbares gab es bei Ovid … und bei Apuleius und seinem Goldesel, in Fabeln und in Märchen, doch nicht in der wölfischen Wirklichkeit?
Die Realität sprach dagegen. Wo doch schon das gemeinsame Singen im Chor zu erkennen gab, dass aus einem Esel nie ein wahrer Wolf werden konnte, allen Verrenkungen zum Trotz und ungeachtet des leicht einzufärbenden Fells. Esel hatten immer schon einen weißen Bauch und manchmal Zebrafüße, weil sie aus Afrika stammten und mit den Wildpferden eng verwandt waren. Mit den Wildpferden verband sie nicht nur die Grazie des Tanzens in weiter Landschaft, sondern vor allem die Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit. Selbst weiße Esel gab es, edle Tiere -  wie es auch edle Wolfsnaturen gab und weiße Wölfe!

Die Gedanken kreisten, hingerissen zwischen Selbstsein und staatsbürgerlicher Pflicht; Faustinus hatte ein unverkennbares Identitätsproblem. Leichte Schizophrenie kam auf.
Was war echt und was war falsch?
Trog das Gefühl oder täuschten die Sinne?
Faustinus fühlte wie ein Esel, dachte wie ein Esel, trillerte und posaunte wie ein Esel – und er verhielt sich auch wie ein Esel, selbst in der Gesellschaft von Wildschweinen und Wölfen.
Hatte er eine andere Wahl?
Schließlich war sein Los determiniert.
Als Esel war er in die Welt gekommen, hinein geboren in den Stamm sylvanischer  Waldesel aus Teil der heiligen Nation aller Esel, die schon manchen Genius hervorgebracht hatte, aber auch manche Eselei.
Was konnte er überhaupt noch gegen diese Fremdbestimmung tun, gegen Geworfenheit und Determination?
Gab es den freien Willen überhaupt, von dem die Weisen der Eselswelt redeten? Waren das Sture und das Störrische, das man den Eseln überall gerne andichtete, gar Kennzeichen dieses freien Willens und gleichzeitig Zeichen des Widerstands, der inneren und äußeren Auflehnung und Rebellion?
Gab es die individuelle Freiheit und eine Selbstbestimmung des Subjekts auch in der Eselwelt?
Oder waren alle Esel in Concordia und anderswo blind ihrem Schicksal ausgeliefert, für alle Zeiten vielleicht?
Je mehr Faustinus über Wesen und Bestimmung nachdachte, desto skeptischer wurde er. Dabei fiel ihm kaum auf, wie die Natur in ihm durchkam und ihn ketzerischer und zunehmend aufrührerischer werden ließ.

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