Donnerstag, 1. September 2011

Vom Wesen des Esels und seiner höheren Bestimmung





Solange der kleine Faustinus in der Geborgenheit des Stalls weilte, spielte, experimentierte, sinnierte und mehr und mehr gültiges Wissen anhäufte; und solange er das vertraute I – Aaa seines familiären Umfelds in allen Tonlagen und Variationen genießen konnte, erschien ihm die gesamte Schöpfung als göttliche Ordnung. Seine Eselswelt war noch intakt, obwohl jeder aus der großen Familie der Grauen sein eigenes Kreuz tragen musste.
Esel trugen schon immer ihr Kreuz, weil Gott auch das so vorherbestimmt hatte. Und sie trugen auch den Heiland darauf, wenn es ein musste – und das Heil in die Welt. Also war das Kreuz ihnen kein Stigma und keine Last. Vielmehr verwies es auf die höhere Bestimmung aller Esel und somit auf ein Detail, um das sich in der groben Wolfswelt kaum jemand scherte.
Faustinus war wissbegierig von Anfang an. Und nachdem er den Sinn der Buchstabenreihen vollständig erfasst hatte, lernte er Griechisch und Latein und wandte sich mehr und mehr der Bücherwelt zu. Er las fast alles, was es erreichen konnte, ganz egal, ob es für junge Seelen bestimmt war oder nicht. Mit Lust las er und manchmal im Rausch. Die alten Kulturen hatten es ihm angetan – siebentausendjährige Eselsgeschichte! Die Zeit in der Wüste am Nil, die Jahre zwischen Euphrat und Tigris und die freiheitliche Zeit auf den glücklichen Inseln im Mittelmeer, wo Atlantis einst blühte, bevor es und unterging und viele tausende Jahre danach das herrliche Troja!
Selbst in der Nacht, wenn alle anderen Lastenträger vor Müdigkeit längst eingeschlafen waren, las Faustinus noch unter der rauen Pferdedecke versteckt im Licht der Taschenlampe. Mit Vorliebe widmete er sich den vielen Märchen und Legenden, den Fabeln und Bildungsromanen, philosophischen Lehrgedichten und der gehobene Reiseliteratur, weil diese Werke wahrer Volksdichter allesamt von der weiten Welt kündeten, vom bunten Tierreich, von fernen Menschenwesen, von Freiheit und Gerechtigkeit und von ewigen Kampf des Guten gegen das Böse.
Am allerliebsten aber las Faustinus Märchen und romantische Geschichten, die etwas mit großen Reisen und Irrfahrten zu tun hatten, mit Walz und Wanderschaft und mit Beschreibungen aller Art, die sich um Esel drehten, um sich reckende und sich streckende Goldesel und redende Eselinnen. Manchmal las er in der Bibel und manchmal im Homer.
Faustinus, ganz zufällig an einem Siebenten geboren und dazu noch am siebenten Tag der Woche, hatte inzwischen das siebenten Lebensjahr erreicht. Nicht nur neue und alte Schriften konnte er nunmehr lesen. Auch Geheimschriften beschäftigten ihn, fremde und selbst entworfene, die fern an die Hieroglyphen der Vorzeit erinnerten. Woher der Drang herrührte, seine Geheimnisse wahren und seine Erkenntnisse verstecken zu wollen, wusste er selbst nicht. War es eine ferne Ahnung davon, dass unter Wölfen das Schweigen seliger war als die offene Rede?
Die Zahlen hatten es ihm ebenso angetan. Leidenschaftlich berauschte  er sich an ihrer Magie, denn in seinem Herzen war er ein Nekromant und Zahlenmystiker, ein verborgener Anhänger der Kabbala wie Meister Pico, Reuchlin und der ferne Geistesverwandte Faust. Jede Zahl hatte eine Bedeutung, die Eins, die Drei, die Fünf, die Sieben … Also verlies er gerne die Berghänge Siebenbergens und schweifte in Geist und Fantasie die siebentausend Jahre zurück zu den Ursprüngen in der Wüste oder las in den Historien längst entschwundener Kulturen. Die klassischen Mythen der Götterwelt faszinierten ihn - und immer wieder lustige Fabeleien aus der Eselswelt, beginnend mit Äsop und Apuleius bis hin zu Lessing und La Fontaine.
Eselsgeschichten regten ihn an und auf. An Lessing schätzte er den toleranten Geist der Aufklärung, während er Schiller um der Freiheit willen verehrte, die aus seinen Dichtungen sprach.
Man schlägt den Sack und meint den Esel, hatte der Dramendichter gefolgert, der auch ein kantiger Philosoph war, nachdem er tief über das Wesen der Eselheit nachgedacht hatte.  Solch denkerische  Vorarbeit ermutigte Eselchen Faustinus sehr. Begeisterung kam auf für sein Sosein und für seine Art und Gattung. Denn eines war selbst aus den nicht von Eseln gedichteten Fabeln heraus zu lesen, bei allem Spott.
Der Esel war seit je her ein Universalgenie, einer, der ungeachtet vielfältigen Leidens alles fertig brachte; ein Allwissend war der Esel und ein Alleskönner, ein Quacksalber und ein Papst, ein Pharisäer und ein Dukatenspeier.
Viel Tierisches war im Esel angelegt und verborgen - und noch mehr Archetypisches. Kein Wunder, dass sich, über die Tierwelt hinaus, irgendwann auch andere Geschöpfe mit den Eseln identifizierten und kurz behaupten: „Der Esel, das bin ich!“

Was zunächst nur Muße war und Zeitvertreib, wurde bald zur gezielten Suche nach der eigenen Identität und nach dem fernen Ideal der Eselheit.
Die Dichtung von den seltsamen Metamorphosen des römischen Goldesels, der ihn schon früh mit der prickelnden Welt der Erotik vertraut machte, mit der Macht der Triebe und mit einem Vorurteil, das Seinesgleichen nie wieder los werden sollte, las er mit der gleichen Ehrfurcht wie die heilige Geschichte von der Eselin Bileams, die im Dialog mit ihrem Herrn bereits philosophische Betrachtungen über Ursache und Wirkung anstellte, ja über Recht und Unrecht reflektierte. Neben der signifikanten Tatsache, dass Esel schon zu alttestamentarischen Zeiten sprechen konnten, wurde Faustinus bald bewusst, dass seine Art, über die Fähigkeiten anderer Waldtiere hinausgehend, geradezu prädestiniert war, Dinge zu sehen, für die Normalsterbliche kein Auge hatten.
Eselein Faustinus erkannte, wie loyal und einfühlsam sein oft geschundenes Volk doch immer schon war und was es an musischen, geistigen und nützlichen Dingen hervorgebracht hatte.
Und irgendwann wurde ihm noch etwas klar:
Eigentlich stand nicht der Wolf im Mittelpunkt des Universums aller Tiere, sondern der Esel war es wohl, dem die zentrale Stellung zukam!
Denn im Esel war die Friedfertigkeit und Leidensfähigkeit aller Kreatur besser verankert als im immer noch bestialischen Wolf.
So räsonierte der kleine Waldesel insgeheim in kindlicher Einsamkeit und legte mit diesen frühen Reflexionen den Grundstein zu einem gesunden Selbstbewusstsein, das er später noch bitter nötig haben sollte. Nur laut aussprechen durfte er seine gewagte These nur unter Freunden im Rosenpark und unter dem Schutz der Rose, dort, wo wohl kein Wolf mithörte.
Das frühe Nachdenken über das Sein der Esel und über die Stellung des Esels im Kosmos in der Zeit machte aus Faustinus einen philosophierenden Historiker und einen historisierenden Philosophen. Gelegentlich gab er aus etwas von dem, was er in seinen Studien herausgefunden hatte, im kleinsten Kreis an seine Mitgeschöpfe weiter. Wissen sei Macht, hatte er irgendwo gelesen. Und weil er eine großzügige Natur war, wollte er die Macht auch auf auch die Kleinen und Schwachen verteilen.
„Das Kücken muss sich wehren können gegen den gespornten Hahn, mit welchen Waffen  auch immer, wenn es nicht untergehen soll“,
folgerte er.
Esel wurden nicht nur alt; sie waren schon sehr alt - und heilig.
Schon in Urzeiten wurde sie als Gottheiten verehrt, selbst von Menschen, lange noch bevor ihr besonders Verhältnis zum Kreuz verstanden und richtig gedeutet werden konnte.
Was ahnten die oft ungebildeten Wolfskrieger von der höheren Bestimmung des Esels?
Und woher sollten diese Banausen wissen, das Seinesgleichen den Heiland in die Welt geleitetet hatte - wachend an der Krippe im Stall - und dann auf dem Rücken in das neue Jerusalem?
Für die meisten war ein Esel nur ein Esel, dumm und störrisch. Zahlreiche Vorurteile kursierten im Land, schlecht gedroschenes Stroh, Topoi und Klischees, oft voller Verachtung und ohne tieferen Sinn für den eigentlichen Wert der sakralen Tiere.
Und nicht nur Wölfe trieben ihren Spott. Auch andere Viecher warfen leichtfertig mit Worten um sich, deren Sinn sie nicht erfasst hatten und sorgten dafür, dass der Esel in aller Munde war:
 „Du dummer Esel!“
hatte er eine Gans einmal schnattern hören, die sich selbst zu den Intelligenzbestien zählte; während andere Tiere Hühner beschimpften und Hunde.
Im Reden über andere entstand das Gerede. Dabei vergaßen die Tiere ihr Selbst.
Immer wenn Ärger aufkam und Streit, war es nicht mehr weit her mit der Brüderlichkeit unter den Tieren. Einer zog über den anderen los und überhäufte ihn mit Schmähungen. Wo kein Urteil möglich war, regierte das Vorurteil, selbst fern von Wölfen.
Und dabei hatten sie alle in der Schulklasse eine Sentenz vor den Augen, die viel Imperativisches in sich barg und ein Ethos verkündete, das für die gesamte Schöpfung gültig war:
„Edel sei das Tier, hilfreich und gut“!
Soviel, mehr nicht!
Faustinus hatte gründlich darüber reflektiert. Doch weil die sieben Jahre von Zuhause die Botschaft bereits eingelöst hatten, beachtete er sie nicht weiter.
Der kleine Waldesel Faustinus liebte allerlei Geschichten und delektierte sich an ihrer Poesie. Besonders aber schätzte er die wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die zuverlässige Beschreibung aller Dinge und Phänomene der Vergangenheit, aus der es Kraft sog und Zuversicht für die Gegenwart und Zukunft.
Große Esel hatte es immer schon gegeben, wahre Genies der Eselheit. Und schließlich war auch er ein Eselfohlen von edlem Geblüt mit einer Ader für alles profund Schöne und Erhabene, Werte, die ihm genauso wichtig waren wie das Wahre und das Gute.
Wenn Faustinus Optimus gut gelaunt war, und das war es fast immer, dann jubilierte es und sang mit Inbrunst.
„Dieser kleine Esel hat das Zeug zum Tenor!“
fand eine Großtante einmal, nachdem sie einer fast vollendeten Arie gelauscht hatte. Also riet sie dazu, die Ausbildung des Begabten nicht dem Zufall zu überlassen und schickte bald darauf selbst einen Meister zur Unterweisung.
Während andere fortschrittliche Esel einen Traktor steuerten, Lokomotivführer wurden und gar Kosmonaut, erlernte der kleine Faustinus zunächst das klassische Gitarrenspiel, weil dieses traditionelle Eselsinstrument schon andere Minnesänger berühmt gemacht hatte. Bald darauf griff er keck zur Mandoline, zupfte darauf herum, kratze ein paar Töne auf der Fiedel, schlug die Pauke, klimperte auf dem Klavier und trat, wenn er in der Kirche war, auch Mal in die Pedale der großen Orgel. Dabei stellte er bald fest, dass er sich nie für ein Instrument entscheiden konnte, sondern dass ihm alle zu Gebote stehen mussten, weil ihn ihr Klang im Ohr durchströmte, vereint zu göttlicher Musik:
„Vielleicht werde ich einst einmal dirigieren wie Kapellmeister und Ministerialdirigenten! Oder ich werde  nur noch komponieren und den Geist, die Poesie und die göttliche Musik zu Einem zusammenführen, zu einem Kunstwerk, zu einem Gesamtkunstwerk! Kein Ausführender will ich sein, kein Virtuose und kein Interpret, kein reiner Dichter und kein abstrakter Philosoph, sondern ein ganzheitlich Schaffender, einer, der Neues formt, der eine Welt erfindet und der jene Welt mit Gott versöhnt im Gesamtkunstwerk, das ein Ebenbild der Schöpfung sein soll!“
Solches erträumte sich der kleine Esel in einer stillen Stunde der Einkehr, nachdem es lange unter den munter ausspielenden Dorfmusikanten geweilt hatte.
Das alles klang irgendwo höchst verrückt und vermessen!
Und weil er nicht als Wahnsinniger gelten wollte, selbst nicht als rätselhaftes Genie, schließlich hieß er nur Faustinus, nicht Faustus, verschwieg er seine bunten Träume und Visionen.
Noch!


Copyright: Carl Gibson

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